Jahresthema 2022/23: Kunst und Klasse // Art and Class

Kunst und Klasse

Für die großen Emanzipationsbewegungen der Moderne haben die Künste immer eine ambivalente Rolle gespielt. Auf der einen Seite waren es die Kreativen aus der bildenden Kunst, Musik, Literatur und dem Theater, die ihre Zeit in Gedanken, Bilder und Worte gefasst und die Brüche, Ungerechtigkeiten und Machtverhältnisse der Gesellschaft erkannt, aufgedeckt und dem Publikum zurückgespielt haben. Nicht nur durch politische Kunst, engagierte Literatur, sozialkritische Filme, provokante Bühnenstücke und scharfe Satire wurde sozialer Wandel entfacht und befeuert. Andrerseits ist diese sogenannte „kreative Klasse“ inzwischen selbst zu einem Teil der neuen Meinungs- und Kulturelite geworden. Daher stellt sich die Frage, wie inklusiv oder exklusiv diese neue Klasse ist.

Gerade die soziale Herkunft bleibt bei der Diskussion um Ungleichheit eher im Hintergrund. Im Grundgesetz ist sie nicht einmal als Diskriminierungsgrund erwähnt, obwohl sie einer der stärksten Faktoren ist, der die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten einschränkt und sich mit anderen Formen von Diskriminierung überlagern kann, etwa aufgrund der Ethnie, des Geschlechts, des Alters oder einer Behinderung. Gleichzeitig wird Klasse oft nicht einmal auf den zweiten oder dritten Blick bei anderen sichtbar und prägt ebenso unsichtbar die eigene Lebensführung.

Historisch und im weltweiten Vergleich ist es ein besonderes Privileg, dass sich Menschen professionell mit Kunst und Kreativität beschäftigen können. Heute gehört die Mehrheit der Menschen, die sich in ihrem Berufsfeld kreativ ausdrücken können, einer Bildungselite an.

Gerade in der Tradition der progressiven (Selbst-)Kritik wollen wir die Fragen stellen: Wie divers sind die Künste? Wie selektieren Kunsthochschulen im Bewerbungsprozess und in der Ausbildung? Wie bilden und verfestigen sich soziale Netze, die den Kunst- und Kulturmarkt bestimmen? Wie überlagern und verstärken sich Klassenlagen mit anderen Ungleichheitsthemen? Welche Prozesse von Anerkennung und Abwertung finden sich in einer vielfältigen Gesellschaft? Wie entsteht Geschmack? Was empfinden wir als schön? Wann ist die Sprache der Kunstwelt und der akademischen Welt einschließend und wann ausschließend? Wie prägt der soziale Hintergrund unseren Blick auf die Künste? Wie hängen die Begriffe von Klasse, Milieu, Schicht und (Sub-)Kultur zusammen? Wie gestaltet sich auch historisch das Verhältnis zwischen Staaten und den Künsten? Von wem wird Kunst gemacht und für wen sind die Künste da?