For more detailed information, please change to the German version of this website.

Judith Raum: L’Inspecteur des Cultures

Judith Raum: L’Inspecteur des Cultures

Seit 2009 beschäftigt sich Judith Raum (*1977) mit dem als „Bagdadbahn“ bekannt gewordenen historischen Eisenbahnprojekt. In ihrer künstlerischen Arbeit widmet sie sich den Auswirkungen der deutschen Finanzpolitik auf die kulturellen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem osmanischen Reich im frühen 20. Jahrhundert und der Übersetzung der untersuchten Strukturen in körperlich-materielle Prozesse.

L`Inspecteur des Cultures ist Judith Raums erste institutionelle Einzelausstellung in Deutschland.

 

1888 beauftragte das Osmanische Reich eine Gesellschaft unter Leitung der Deutschen Bank mit dem Bau der „ Anatolischen Eisenbahn“ – einer die heutige Türkei durchquerenden Bahnlinie, die bis an die Ölfelder nach Bagdad reichen sollte. Bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs richteten sich die Ideen und Initiativen deutscher Unternehmer auf eine umfassende Nutzung der Ressourcen und Märkte Anatoliens. So wurden u.a. Webstühle in die Türkei importiert, um die Textilindustrie aufzubauen. Fränkische Hauswebereien entwickelten Muster für den anatolischen Markt und Export. Agraringenieure (Inspecteurs des Cultures) wurden entsandt, um den großflächigen Anbau von Bodenfrüchten sowie die Verbreitung deutscher landwirtschaftlicher Maschinen und Geräte in Anatolien voranzutreiben.

In Archiven in Deutschland, England und der Türkei hat Judith Raum Bildmaterial und Korrespondenzen gesammelt, die diese Unternehmungen, ihre Sprache und Bildpolitik dokumentieren. In ihrer für den Kunstverein Langenhagen konzipierten Ausstellung stellt sie Archivfotos, Textdokumente, eigene Objekte und großformatige Stoffarbeiten in einen räumlichen Zusammenhang, anhand dessen die untersuchte Wirtschafts- und Sozialgeschichte vielstimmig, multiperspektivisch und -medial lesbar wird. Die Art der Anordnung, Aufstellung und Hängung der Textilien und Objekte im Ausstellungsraum folgt provisorischen Konstruktionen und Befestigungen, wie sie der Künstlerin an Orten und in Maschinen entlang der Bagdadbahn sowie in Archivfotos begegnet sind. Mehrfach mit Tinten bearbeitete Stoffbahnen greifen die für den Nahen Osten gestaltete Musterwelt der deutschen Hausweber auf. Die Gestaltung und Präsentation der Dokumente und Artefakte erzeugen so ein Echo der historischen Erzählstrukturen und Gebrauchsweisen.

Judith Raum studierte Kunst an der Städelschule in Frankfurt / Main und an der Cooper Union in New York, außerdem Philosophie, Kunstgeschichte und Psychoanalyse an der Goethe Universität Frankfurt / Main. Seit 2006 unterrichtete sie mit einem Lehrauftrag an der Universität der Künste in Berlin und ist derzeit Stipendiatin der Graduiertenschule für die Künste und Wissenschaften der UdK Berlin.