Körperpraxis
Man darf sich vom Namen nicht täuschen lassen: Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz – das klingt sperrig, in manchen Ohren womöglich wie ein Wortmonster. In Wirklichkeit aber ist diese ungewöhnlichen Studien- und Forschungseinrichtung in den Weddinger Uferstudios eine Insel der Neugierde. Dort finden sich – jenseits konventioneller Auffassungen vom künstlerischen Tanz und zugleich immer ausgehend vom Körper – Forschergeister zusammen, um körperliche und geistige, gesellschaftliche und politische, künstlerische und wissenschaftliche Praktiken zusammenzubringen und auf diese Weise nach neuen Ufern des Wissensaustauschs zu suchen.
Das HZT ist vor 19 Jahren entstanden, in einer gemeinsamen Kraftanstrengung der UdK Berlin, der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und dem als ‚TanzRaumBerlin‘ firmierenden Netzwerk der Freien Tanzszene Berlins. Die gemeinsame Basis aller drei, damals brandneuen Studiengänge – BA Tanz, Kontext, Choreografie, MA Choreografie sowie MA Solo/Dance/Authorship – war und ist das Somatische: Tanz wird hier als körperbasierte Praxis begriffen, die zugleich die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Themen der gegenwärtigen Zeit sucht.
Und so gibt es unter der Leitung der Professor*innen Nik Haffner und Sandra Noeth innerhalb der Studiengänge nicht nur reguläre Kursprogramme und ausgiebige Möglichkeiten für eigene künstlerische Experimente, sondern immer wieder neue Begegnungen mit renommierten Tanzkünstler*innen und Wissenschaftler*innen anderer Disziplinen.
Seit 2023 forscht z. B. Claire Cunnigham im Rahmen ihrer bis 2028 laufenden Einstein Profil-Professur u. a. an neuen Formen von Performance und Lehre, in der ihre Selbstidentifikation als behinderte Künstlerin genauso eine Rolle spielt wie ‚crip time‘, das Zeitbedürfnis von Menschen mit Behinderung und die von Cunningham entwickelte ‚Choreography of Care‘, eine künstlerische Arbeitsweise, die die Zusammenarbeit in allen Schaffensphasen zum Anlass für eigenes und gegenseitiges Caring (Sorgetragen) nimmt.
Die Themen der regelmäßig stattfindenden Forschungsprojekte und Recherchewoche, an denen Studierende und Lehrende gemeinsam teilnehmen, spiegeln dabei immer auch den Geist der Gegenwart: Ging es bis 2020 eher um intrinsische Fragen der Kunstproduktion, z. B. wie choreografierte Körper über Bewegungen und Blicke Energie aktivieren oder wie Tanz und Musik im Improvisieren zusammengehen, kreist der Austausch in den letzten Jahren eher um Verunsicherung, Schutz, Konfliktbewältigung, Klassismus und Heilung – also Themen, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen.
In der sich über das Wintersemster 24/25 erstreckenden, zusammen mit der Tanzwissenschaft der FU Berlin konzipierten Vortragsreihe ‚body concepts‘ zum Beispiel sprachen Neve Gordon, Rechtswissenschaftler aus Israel und der niederländische Künstler Aernout Mik über den Missbrauch menschlicher Körper als Schutzschilder im Krieg während Anna Arabindan-Kesson, Professorin für African American and Black Diasporic art mit der Choreografin Isabel Lewis über die Kraft und Verletzlichkeit von Black Bodies philosophierte. Auf ein Thema aus verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Perspektiven schauen und auf diese Weise Tanz und Choreografie mit nah- und fernliegenden Feldern wie Architektur, Umwelt, Klima, Medizin, Gesundheits-, Konflikt- und Migrationsforschung, Queer und Black Studies, Psychoanalyse, ja sogar Bogenschießen und Waffenbau zusammenzubringen – das ist der Ansatz aller interdisziplinär angelegten Angebote.
Mit den Erfahrungen, dass Kunst und Wissenschaft keine haarscharf voneinander getrennten, sondern im Gegenteil sich gegenseitig befruchtende Sphären sind, gehen die HZT-Absolvent*innen in die Welt. Die allermeisten von ihnen, nämlich 95% so eine 2020 durchgeführte Verbleibstudie, arbeiten nachhaltig und international in künstlerischen Bereichen – eine ungewöhnlich hohe Quote. Das Problem: Wollen sie weiter künstlerische oder künstlerisch-wissenschaftliche Forschung betreiben, müssen sie ins Ausland gehen, nach Großbritannien, Norwegen oder Österreich, wo es entsprechende Stipendienprogramme gibt.
Hier setzen Nik Haffner und Sandra Noeth ihre Pläne für Strukturveränderungen an: Auch in Berlin sollen Künstlerinnen, seien es Absolvent*innen oder Lehrende, künftig große Forschungsprojekte beantragen können. Auf diese Weise könnte das HZT viele kluge Köpfe an sich binden und noch stärker auf die Zeichen der Zeit reagieren: Denn die Erfahrung, dass gerade aus nicht-künstlerischen Wissensbereichen wie der Medizin das Interesse an Kooperation mit künstlerischen Forschungsfeldern wie dem Tanz wächst, haben sie am HZT in den letzten Jahren zur Genüge gemacht.