Silvia Bahl

Promotionsprojekt

Ästhetiken des mentalen Raums. Zu künstlerischen Wissenspraktiken in Transitional Justice Prozessen

Die Wiederherstellung einer Zivilgesellschaft nach dem Ende von Gewaltregimen ist mit einer Phase des Übergangs verbunden, die neben umfassenden politischen Reformen eine juristische Adressierung der Verbrechen erfordert. In den Rechtswissenschaften hat sich seit einigen Jahrzehnten für diesen gesamten Komplex der Begriff „Transitional Justice“ herausgebildet.

Neben den im engeren Sinne juristischen Verfahren und den an ihnen orientierten Formen wie Tribunalen und Wahrheitskommissionen spielt die kulturelle Symbolisierung durch ästhetische Praktiken in der Aufarbeitung gewaltsamer Vergangenheiten eine zentrale Rolle. Kulturelle Symbolisierungen lassen sich als bildliche und szenische Verdichtungen von Erfahrung verstehen, die teilbar sind und gleichwohl über diskursive Zusammenhänge hinausgehen, da sie soziale Relationen überhaupt erst ermöglichen.

Diese Untersuchung geht von der grundsätzlichen Überlegung aus, dass Prozesse sozialer und politischer Gewalt mit einer nachhaltigen Beeinträchtigung des mentalen Raumes und der Verunmöglichung und Zerstörung von Symbolisierungen einhergehen. Unter mentalem Raum werden die sozialen und kulturellen Praktiken verstanden, die intersubjektive Begegnungen und die damit verbundene Anerkennung und Situierung historischer Erfahrungen erlauben. Dieses Konzept lehnt sich an die Theorie des mental space von Robert Young und insbesondere an die psychoanalytische Theorie der Mentalisierung von Peter Fonagy an. Psychoanalytische Zugänge leisten in diesem Zusammenhang ein Doppeltes: Sie erlauben ein Verständnis sinnlich-symbolischer, nicht diskursiver mentaler Prozesse (Susanne K. Langer) und verstehen diese im Sinne des extended mind (Andy Clark) als ökologisch und relational.

Meine Untersuchung setzt sich vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen mit einer Reihe aktueller Filme in Prozessen der Transitional Justice auseinander.

Dabei lassen sich folgende Ästhetiken und politische Funktionen in Bezug setzen: Filme, die auf einer diskursiven Ebene ansetzen und politische Prozesse begleiten, dokumentieren und in sie eingreifen; Filme und filmisch dokumentierte Reenactments, die Diskurse in einen ästhetisch markierten Raum verschieben und Spiel und Differenzen erzeugen, bis hin zu einer Fiktionalisierung von gerichtlichen Prozessen; Filme, die direkt an Imagination und Funktionsweisen des Szenischen anknüpfen, beispielsweise Logiken des Traums und des Surrealen, um an die latenten oder verleugneten Dimensionen der Gewalt zu kommen; und schließlich Filme, die ästhetische Strategien entwickeln, um die Leerstellen selbst zum Sprechen zu bringen oder im Sinne der Prosopopöie Bilder der Toten zu figurieren.

Die Argumentation bezieht folgende Filme insbesondere ein: „El silencio de otros“ (Almudena Carracedo & Robert Bahar), „Unas preguntas“ (Kristina Konrad), „El pacto de Adriana“ (Lissette Orozco), „Teatro de guerra“ (Lola Arias), die Prozess-Trilogie von Milo Rau, „The Act of Killing“ und „The Look of Silence“ (Joshua Oppenheimer), „Nostalgia de la luz“ und „El botón de nácar“ (Patricio Guzmán), „L’image manquant“ und „Les tombeaux sans noms“ (Rithy Panh)

Vita

Silvia Bahl studierte von 2009-2014 Medien- und Kulturwissenschaft (BA) und Medienkulturanalyse (MA) in Düsseldorf. Sie war als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Wiederkehr der Folter? - Interdisziplinäre Studie über eine extreme Form der Gewalt, ihre mediale Darstellung und ihre Ächtung“ beschäftigt und führte im medienwissenschaftlichen Teilprojekt eigenständige empirische Forschungen zur affektiven Filmwahrnehmung durch. Von 2014-2018 war sie am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft in Düsseldorf als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre beschäftigt und leitete Veranstaltungen im Bereich Filmwissenschaft, Ästhetik und Gewaltforschung, Interkulturalität, Erinnerungskultur, Medienökologie und Psychoanalyse. Als Filmkuratorin arbeitet sie seit 2010 für die Filmkunstkinos Düsseldorf und nahm als Jury-Mitglied des offiziellen Berlinale Wettbewerbs, der Director’s Fortnight bei den Filmfestspielen in Cannes und des Sarajevo Filmfestivals für den Internationalen Verband der Filmkunsttheater teil. Seit 2018 ist sie als freie Autorin beim Filmdienst tätig.

Publikationen

Das Obszöne als politisches Performativ. Politische Strategien der Provokation und Indienstnahme von Affekten, hg. von Silvia Bahl und Reinhold Görling, Bielefeld: Transkript, 2019.

Zur Wiederaufführung der Serie „Holocaust“ und dem NS-Drama „Schindlers Liste“, Filmdienst Januar 2019.

Landschaften des Krieges. Zur Filmtrilogie des georgischen Filmemachers George Ovashvili, Filmdienst, März 2018.

 

Lehrveranstaltungen

SS 2014 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Koloniale Heimsuchungen – Ethnographischer Dokumentarismus als filmische Intervention

WS 2014/15 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Das Denken des Films

SS 2015 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Reenactment and Transitional Justice – Film Aesthetics of Dealing with Violent Pasts

WS 2015/16 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Das Denken des Films
Voices. Ein Ton-/Filmprojekt mit Geflüchteten

SS 2016 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Aesthetics of Working Through
Voices. Ein Ton-/Filmprojekt mit Geflüchteten

WS 2016/17 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Das Denken des Films
Das Obszöne als politisches Performativ

SS 2017 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Szenen des (Post-)Kolonialen

WS 2017/18 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Das Denken des Films
Mediale Ökologien: Gefüge der Individuation, der Sozialität und der Geschichte(n)

SS 2018 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Filmtheorie
Psychoanalyse und Film

WS 2018 (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)
Mental Space – Film als Erfahrungsraum