Die Meisterdiebin zu Gast bei Valérie Favre

Vor kurzem hat Valérie Favre eine große Museumsausstellung in Neuchâtel eröffnet. Zu diesem Anlass ist auch eine Monografie erschienen, dick und kompakt wie ein Roman. Doch Zeit zum Ausruhen bleibt ihr nicht. In ihrem Berliner Atelier arbeitet die Schweizer Künstlerin, die 1998 von Paris in die deutsche Hauptstadt kam, bereits an zwei zukünftigen Ausstellungsprojekten. Hierfür hat sie eine Art Zufallsgenerator konstruiert, der ihr mit einem ausgeklügelten, auf mathematischen Formeln beruhenden Aufschreibesystem bei der Komposition zukünftiger, großformatiger Gemälde hilft. Der Ausstellungs- und Publikationsbetrieb – manchmal muss er der 1959 in Evilard (Kanton Bern) geborenen Malerin wie eine gefräßige, nimmersatte Maschine vorkommen, die immerzu mit Bildern, Objekten, Texten und Ideen gefüttert werden will. Gleichzeitig weiß Favre aber auch, dass sie nie genug Zeit haben wird, um alle Bilder, die sie im Kopf hat, auch tatsächlich auf die Leinwand zu bringen. Und nicht weniger fordernd ist vermutlich auch ihre Tätigkeit als Professorin für Malerei an der Universität der Künste Berlin (UdK). Schließlich gilt es, gemeinsam mit ihren Studierenden, die nicht nur unter Künstlerinnen und Künstlern selbst weit verbreitete Ansicht, Kunst könne man weder lernen noch lehren, täglich aufs Neue zu widerlegen – und es eben trotzdem zu tun. Die gleichzeitige Arbeit als freie Künstlerin und Akademie-Professorin verlangt unterschiedliche Arten des Handelns und Nachdenkens. Und doch bildet beides, das Produzieren und das Vermitteln, eine Einheit, womöglich verbunden über das alles umfassende Kunst-Denken. Vielleicht ist das vergleichbar mit zwei Beinen, auf denen man steht und die einen Schritt für Schritt voranbringen.

Favre, die hauptsächlich figurativ malt, geht es nicht darum „schöne Bilder“ zu malen, sondern bei ihr steht das umfassende Narrativ im Vordergrund. „Ähnlich wie ein Schriftsteller die Schrift benutzt, benutze ich die Malerei, um eine Geschichte zu erzählen.“ Vielleicht ist es daher auch nicht so sehr verwunderlich, dass die Künstlerinnen und Künstler, von denen sie selbst am meisten lernte, keine Maler sind: die Schriftstellerin Lou Andreas-Salomé etwa, der Regisseur Jean-Luc Godard oder der Komponist John Cage. Kunst speist sich aus dem Alltag, genauso wie andere Formen der Erzählung, die einem bei der Lektüre, Theater- und Kinobesuchen begegnen. Die Künstlerin arbeitet bevorzugt in thematischen Serien, die etwa den Selbstmord umkreisen oder das berühmte Goya-Bild der fliegenden Hexen. Ihre Geschichten wuchern wie pflanzliche Wurzelgeflechte: Additiv und verästelt bauen sich so über mehrere Jahre große Erzählbögen auf, deren Architektur oft nur in der Retrospektive Konturen annimmt. Ihre Zeichnungen erscheinen als Hybride zwischen Text und Bild. „Malerei“, sagt Favre, „ist eine Anhäufung von Schichten, ist zum Stehen gebrachte Zeit.“ Man denkt unwillkürlich an Jahresringe, wie etwa bei der Serie „Balls and Tunnels“, einer Reihe von kosmisch-entropisch wirkenden Abstraktionen, zu der die Malerin seit 1995 jedes Jahr wie in einem Ritual ein Bild hinzufügt, dessen Produktion nach einer selbst gestellten Handlungsanweisung „so wenige Entscheidungen wie möglich erfordert“. Wer sich mit Kunst beschäftigt, der erfährt diese Landschaft als ein höchst bewegliches System. Auch eine Universität der Künste bildet da keine Ausnahme. Selbst wenn die traditionsreiche AkademieGeschichte oder das gravitätische Gebäude an der Hardenbergstraße vielleicht etwas anderes suggerieren mögen: Die Künstlerausbildung ist eine fluides System, das vielen verschiedenen Einflüssen unterworfen ist. „Die Kunst“, sagt Favre, „entwickelt sich extrem schnell und erschließt sich neue Felder, an die man noch vor dreißig Jahren nicht zu denken wagte.“ Diese transversale Kraft der Künste stellt die Institution der Akademie immer neu in Frage. Potentialitäten, Beweglichkeit und Verfestigungen müssen immer neu ausbalanciert werden, auf vielen Ebenen. Die Feministin Favre selbst könnte Beleg für die Wandlung der Akademie sein: Als sie 2006 zur Malerei-Professorin berufen wurde, war sie die erste Frau auf diesem Posten in der Geschichte der Institution. In der Malerei gaben bis dahin Maler wie Georg Baselitz den Ton an, der gern mit frauenfeindlichen Äußerungen provoziert. Favre spricht davon, dass es wichtig für die Kunstakademie sei, eine eigene Identität zu entwickeln. „Der jetzige Charakter der UdK ist unklar,“ meint sie. Schließlich stünden auch Akademien untereinander im Wettbewerb. Genauso wichtig wie die freie Kunst findet Favre das Lehramt. Bildung generell schreibt die Künstlerin eine große Bedeutung zu: „Ohne Bildung würde unsere Gesellschaft in einer Katastrophe enden.“ Kunst, da ist sie sich sicher, wird auch in den kommenden Jahren nicht nur ein sehr relevantes Thema bleiben, sondern an Bedeutung zunehmen. Nicht zuletzt deshalb, weil Kunst nicht mehr nur Avantgarde, Labor für progressive soziale oder ästhetische Praktiken oder ein kritisches Instrumentarium für die Gegenwart ist, sondern sich in bestimmten Bereichen eben seit einiger Zeit auch zu einer Art eigener Industrie ausgewachsen hat. In der Künstler-Ausbildung, so die Künstlerin, sollte man diese unterschiedlichen Rollen, welche Kunst gegenwärtig in der Gesellschaft spielt, diskutieren, um den Studierenden Hilfe zur Orientierung zu bieten. Das klingt einfach, erscheint jedoch als kein einfaches Unterfangen, denn die Lage stellt sich verworren und unübersichtlich dar.

Favre zitiert den Leipziger Kunst- und Medientheoretiker Wolfgang Ullrich, der kürzlich davon sprach, dass sich in der Kunstwelt gegenwärtig eine Art tiefgreifende Spaltung vollziehe. Auf der einen Seite sieht Ullrich kommerzielle, glamouröse Events wie die Kunstmesse Art Basel und auf der anderen Seite eher politisch und inhaltlich orientierte, kuratorische Veranstaltungen wie die documenta. Womöglich, so Ullrichs These, eint diese beiden Pole in naher Zukunft bald kein gemeinsamer Kunstbegriff mehr. „Ein Schisma –“, so Ullrich, „das hieße, dass sich einzelne Teile des Kunstbetriebs abspalten, sich institutionell verselbstständigen, sich nicht mehr miteinander verbinden lassen.“ (Der Berliner Theoretiker Tom Holert spricht sogar von einer Dreiteilung zwischen „Kunstmarktkunst, Biennalenkunst und alternativ-dissidenter Praktiken ohne institutionelle Rahmung“.) Noch kommunizieren die verschiedenen Lager miteinander, doch Ullrich spekuliert, dass es die sowieso ständig unter Profilierungsdruck stehenden Kunstakademien sein könnten, die sich als erste auf die eine oder andere Seite schlagen könnten und so zu Agenten der Spaltung werden. Wie soll man in der Lehre dieser Zerreißprobe begegnen?

Ihre Lehr-Philosophie umschreibt Favre mit dem Wort „Präsenz“ – im Sinne von Begleitung im Prozess. Ihren Studierenden möchte sie vor allem einen gewissen „Überblick“ vermitteln, der sie in die Lage versetzt, Prioritäten zu bestimmen und wichtige Entscheidungen für sich selbst treffen zu können. Dazu gehöre auch die Fähigkeit, „politischen Widerstand“ entwickeln zu können und das System nicht als von vornherein gegeben zu akzeptieren. Gerade weil dem Medium der Malerei traditionell ein konservativer Moment innewohnt, oder gerade weil Gemälde eben auch eine Ware sind, mit der man als Künstlerin oder Künstler seinen Lebensunterhalt bestreiten können soll, sei die Herausbildung einer eigenen Haltung entscheidend. Die besten Künstler seien „Meisterdiebe“, sagt Favre, die alles das, was sie umgibt für ihre künstlerischen Zwecke verwenden können und unter deren Händen alles zur Quelle für ihre Arbeit transformiert werden könnte. „Ein Meister kann sich an vielen Stellen unbemerkt bedienen.“ Wie beim Schach müsse man auch in der Kunst vorausschauend denken und strategisch handeln: Wer in der Kunst erfolgreich sein wolle, der müsse es lernen, die Züge des Gegners und den Verlauf einer Partie vorherzusehen. „Malerei setzt eine Art von visionärem Sehen voraus,“ erklärt Favre. Dieses spezifische „Sehen“ müsse sich jedoch idealerweise auf das „kollektive Unbewusste“ richten. Insofern hat die Praxis der Kunst auch etwas Dämonisches. Bei der Betrachtung guter Bilder spürt man das sofort.

Kito Nedo schreibt u. a. für art – Das Kunstmagazin, die Süddeutsche Zeitung sowie frieze und hat eine regelmäßige Kunstkolumne in der Berliner taz. Er ist Preisträger des Art Cologne-Preises für Kunstkritik 2017.