Die Orgel - Komplexität, Raum und Körper

 

Die Orgel ist von den Deutschen Landesmusikräten zum „Instrument des Jahres“ 2021 erklärt worden. Paolo Crivellaro, Henry Fairs, zunächst eine persönliche Frage: Warum haben Sie sich einst für dieses Instrument entschieden?

Fairs: Mein Großvater war Organist. Seine Witwe hat mich ermutigt, als Kind in einem Kirchenchor mitzumachen. Bei dieser Gelegenheit bin ich erstmals einer Orgel begegnet und sah, wie darauf gespielt wird. Ich wusste sofort: Das will ich eines Tages machen. Sozusagen: Liebe auf den ersten Blick.
Crivellaro: In meiner Familie spielte die Musik keine Rolle. Wir lebten in einer Kleinstadt, in bescheidenen Verhältnissen. Manchmal frage ich mich, wie man als Kind auf die Idee kommt, Astronaut werden zu wollen. Ich jedenfalls wollte Musiker werden und habe mit dem Klavier angefangen, meine erste Liebe. Erst später, eigentlich erst mit 16, kam meine Wow-Erfahrung, als ich zufällig ein Orgelkonzert besucht habe.

 

Die Orgel wird als die „Königin der Instrumente“ bezeichnet. Liegt das daran, dass sie so groß ist, dass sie so eine reiche Klangpalette hat?

F: Es war Mozart, der von der „Königin“ sprach. Ich denke: weil die Orgel das größte, komplexeste Musikinstrument ist. Für frühere Zeiten war sie das, was heute ein Mega-Computer ist – rein technologisch gesehen.
C: Interessant, dass man nur im Deutschen von der „Königin“ spricht. In Italien ist die Orgel männlich …
F: … und in England sprechen wir vom „King“ …
C: … ja, natürlich imponiert auf den ersten Blick ihre machtvolle Gestalt. Im kollektiven Denken sind sicher auch ihre vielfältigen Möglichkeiten von Bedeutung: Die Orgel kann raffinierte, extrem laute, aber auch superleise Klänge erzeugen.

 

Orgel ist nicht gleich Orgel. Ich beispielsweise durfte in jungen Jahren als Ferienbeschäftigung in einer Dorfkirche den Blasebalg treten. Solche Instrumente gibt es vermutlich kaum mehr.

F: Die Unterschiede sind gewaltig, auch weil sich die Traditionen des Orgelbaus so sehr unterscheiden. Jede Orgel hat so etwas wie einen Akzent aufgrund der Art und Weise, wie die Pfeifen ansprechen. In Norddeutschland ist das anders als in Süddeutschland.

 

Man könnte von einem Dialekt sprechen?

C: Ja, könnte man. Lassen Sie mich das mit der Sprache vergleichen. Dem Italienischen wird gerne eine Weichheit nachgesagt. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Orgel: Die italienische klingt runder, die deutsche markanter. Von eminenter Bedeutung ist aber sicher das Alter. Die Orgeln im 17. Jahrhundert gleichen nicht denen des 18. oder 19., und in Norddeutschland finden sich einige sehr alte Instrumente – im ostfriesischen Rysum gibt es beispielsweise die älteste noch bespielbare und im Grundbestand erhaltene Orgel Nordeuropas aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Sie klingt wirklich sehr „gotisch“.

 

Die Orgel spielt man normalerweise nicht im stillen Kämmerlein. Sie braucht einen Raum, einen Resonanzraum.

F: Ich übe hier in Berlin gern in der Immanuelkirche im Prenzlauer Berg. Sie stammt aus dem Jahr 1893, und die Orgel wurde genau für diesen Raum konzipiert: eine schöne Sauer-Orgel in einem relativ guten Zustand. Sie passt zum Raum. Man spürt, dass die Beziehung stimmt – vergleichbar der in der Leipziger Michaeliskirche, wo Raum und Orgelklang ein eindrucksvolles Ensemble bilden. Deshalb ist es so wichtig, dass eine neue Orgel im Raum richtig intoniert wird. Das kann Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis alles stimmt: die Klangerzeuger, die Konsonanten, die Pfeifenansprache, die Regulierung im Raum.

 

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

F: Das hat mit Lautstärke zu tun, mit der Charakteristik des Tonansatzes, mit der Beziehung zwischen den einzelnen Registern. Die Klangbalance muss stimmen, und zwar in ihrer Beziehung zum Raum. Man möchte ja nicht, dass die Orgel „schreit“. Sie soll sich bei aller Lautstärke fokussiert, plastisch mitteilen. Wie beim Reden muss man das Gefühl haben, verstanden zu werden, ohne deshalb etwas forcieren zu müssen. Ein Orgelbauer braucht deshalb ein gutes Gehör, vom Fachwissen mal abgesehen. Konkret heißt das: Am Fußloch der Pfeife kann er etwas ändern und am Labium, der Lippe. Auch lassen sich kleine Schlitze einfügen, das ändert ihre Ansprache. Wie breit der Mund ist oder wie schmal. Alles spielt eine Rolle.

 

Sie üben in der Kirche, und beim Üben ist sie zumeist leer. Beim Konzert ist der Raum voller Menschen, und damit verändert sich sein Klang. Spüren Sie das? Können Sie darauf reagieren?

F: Man muss. Ich habe mal in Japan in einer Universitätskapelle gespielt. Übermüdet von der langen Reise, habe ich die Orgel vor dem Konzert kurz einregistriert, bevor ich mich vom Jetlag erholte. Am Abend war der Raum knallvoll. Ich fing an und dachte: Habe ich was falsch gesetzt? Der erste Akkord klang ganz anders als ich beabsichtigt hatte. Darauf muss man reagieren können.

 

Ein Kirchenraum kann hallen.

C: Gerade gestern habe ich in einer Kirche mit einem Nachhall von 10+ Sekunden unterrichtet. Das heißt, der Klang endet und hallt dann noch zehn Sekunden nach: eine potenzielle Katastrophe. Doch damit muss man rechnen und die Tempi, die Artikulation den akustischen Gegebenheiten anpassen. Ein guter Spieler kann da schon einiges erreichen, aber auch seiner Kunst sind manchmal unüberwindbare Grenzen gesetzt.

 

Doch zurück zum Instrument. Letztlich ist die Orgel vor allem eine Maschine. Welche Möglichkeiten haben Sie, um sie „menschlich“ erscheinen zu lassen? Welchen interpretatorischen Spielraum haben Sie?

F: Sie ist eine Maschine, das ist wahr. Und dennoch hat man den Eindruck, dass sie lebt. Sie besteht aus Holz, das sich bewegt. Ihre Pfeifen werden durch einen Luftstrom, den sogenannten Orgelwind, angeblasen. Sie atmet, und sie ermöglicht die schönsten Klänge, die ich kenne. Das Haptische kommt hinzu. Wie man das Instrument berührt. Wie man in die Tasten rein und wieder aus den Tasten heraus geht. Mit welchem Tempo. Mit welchem Gewicht.
C: Noch nicht so erfahrene Studenten behandeln sie manchmal als etwas Fremdes. Sie treten sie gewissermaßen mit Füßen. Das hängt auch damit zusammen, dass ihr Klang – anders als beispielsweise der einer Oboe – in einiger Entfernung entsteht. Deshalb sage ich den Studierenden immer, dass sie die Tasten als Verlängerung ihrer Finger betrachten sollten. Man muss eine Einheit mit dem Instrument herstellen. Schließlich kann die Orgel entweder dein „Freund“ oder dein „Feind“ sein: je nachdem, wie du sie behandelst.

 

Die Orgel fordert vor allem einen ganzeinheitlichen Körpereinsatz. Es werden nicht nur die Finger aktiv, sondern auch die Füße.

C: Das Spiel mit den Füßen ist nicht so schwierig, wie es aussieht. Was schwer ist, ist die Koordination und Konzentration – vor allem deshalb, weil der Kontrapunkt eine wichtige Rolle in den meisten Orgelkompositionen spielt. Drei, vier Manuale zu bespielen ist heutzutage kein Problem; sie sind genormt. Alte Orgeln aber nicht: Manchmal sind sogar die Länge und die Breite der Tasten anders als bei modernen Instrumenten. Anders als Konzertflügel unterschiedlichster Hersteller, die sich mehr oder weniger ähneln, gibt es allerdings kaum zwei identische Orgeln auf der Welt. Das bedeutet, dass wir uns vor einem Konzert mindestens einen Tag lang mit dem Instrument beschäftigen müssen.

 

Bei den vielen Anforderungen, die eine Orgel an den Spieler stellt, unterlaufen dem sicher auch mal Fehler. Hört man denn bei einem so mächtigen Instrument überhaupt einen Missgriff heraus, oder wird er vom Klangschwall überdeckt?

F: Es gibt Fehler und Fehler. Es gibt Fehler, die ein Stück völlig entstellen. Und solche, die nicht weiter auffallen. Ich persönlich gehe als Spieler gern auf Risiko. Es macht mir Spaß, mich an die Grenzen des Unspielbaren heranzutasten und zu sehen, was ein Instrument hergibt. Das kann natürlich auch mal schiefgehen.
C: Viele sagen sich heute: Hauptsache schnell, auswendig und ohne Fehler. Man konzentriert sich so darauf, fehlerfrei zu spielen, dass man die Musik darüber vergisst. Mich macht das traurig …

 

Einen Punkt haben wir noch gar nicht angeschnitten. Was passiert, wenn Sie auf einer Barockorgel ein romantisches Stück interpretieren müssen und umgekehrt? Welche Herausforderung stellt das dar und welche Möglichkeiten, ein Werk vielleicht kritisch zu hinterfragen?

F: Ich versuche das zu vermeiden. Die Beziehung zur Orgel ist mir äußerst wichtig, die Literatur sollte zu ihr passen. 
C: Jeder „Orgel-Typus“ verlangt einen „Programm-Typus“. Schön wäre es, wenn wir etwa dieselben zwei, drei Konzertprogramme im Laufe eines Jahres verwenden könnten. Das geht aber meistens nicht. Wenn wir eine Konzerteinladung bekommen, verlangen wir als Erstes eine Disposition der Orgel, fragen nach Manualanzahl, Registern, Stil. Und entscheiden danach, welche Stücke wir spielen.
F: Manchmal kommt es vor, dass man dennoch ein Stück spielt, das eigentlich nicht zum Instrument passt. Das dann zum Klingen zu bringen, ist eine Kunst, auf die man sich verstehen muss. Ideal ist das aber nicht. Ein Stück wird nie so gut klingen, wie es klingen kann, selbst wenn man ein Genie ist. Die Möglichkeiten sind einfach begrenzt.
C: Lassen Sie es mich anders sagen. Ich war einmal in Sydney und wollte für meine Freunde dort ein Risotto zubereiten. Weil ich nicht die richtigen Zutaten finden konnte, war das Ergebnis für meinen Gaumen eine einzige Katastrophe, auch wenn’s den Leuten geschmeckt hat. Ähnlich verhält es sich mit dem Orgelspiel: Man möchte etwas erreichen, aber die Voraussetzungen sind nicht gegeben. Ein Missklang ist da leicht vorprogrammiert.

 

Hier im Institut für Kirchenmusik gibt es eine ganze Reihe von Orgeln unterschiedlichster Art. Wie bereiten Sie denn Ihre Studenten auf die Vielfältigkeit ihres Instrumentariums vor?

F: Wenn sie einen Bach oder Buxtehude spielen sollen, gehe ich mit ihnen in den Orgelsaal. Romantische Musik üben wir eher in der Aula, und manchmal wechsle ich mit meinen Schülern in die Pauluskirche nach Zehlendorf, in der sich zwei verschiedene Orgeln befinden: eine Art „Bach-Orgel“ und eine große im französisch-symphonischen Stil.

 

Bei über 800 Orgeln in Berlin können Sie wählerisch sein. Haben Sie beide denn ein Instrument, das Ihren Wünschen am ehesten entspricht?

C: Das hängt von der Literatur ab. Je nach Orgel suche ich nach einem geeigneten Programm. Und anders herum. Auch die Akustik der Kirche spielt eine Rolle, vielleicht auch, wie sie ausschaut. Wenn all diese Parameter stimmen, ist mir eigentlich egal, aus welcher Zeit die Orgel stammt.
F: Ich könnte drei Instrumente nennen, bei denen in letzter Zeit meinem Eindruck nach alles zusammenkam: Das eine war die frühromantische Ladegast-Orgel im Merseburger Dom, das andere die große Silbermann-Orgel im Dom St. Marien zu Freiberg, beides wunderbare Ensembles. Neulich habe ich einen Abend an der großen Sauer-Orgel im Berliner Dom verbracht – auch ein tolles Erlebnis!
C: Zu meinen schönsten Erfahrungen zählt ein Konzert im Dom zu Roskilde, der bedeutendsten Kirche Dänemarks, in der viele Könige und Königinnen begraben liegen. Orgel und Kirche ließen keinen Wunsch unerfüllt. Alles war im Einklang. Als kleine Überraschung fiel auf die Minute genau ein letzter Sonnenstrahl auf den Spieltisch. Ich dachte, ich wäre im Himmel.

 

Die Fragen stellte Hartmut Regitz, Musikkritiker und Autor. Paolo Crivellaro und Henry Fairs sind Professoren für „Künstlerisches Orgelspiel“ am Institut für Kirchenmusik.