John von Düffel: Über Schreiben

Über das Schreiben zu schreiben, sollte für einen Schriftsteller eigentlich kein Problem sein. Und wenn wie in meinem Fall die Lehre im Studiengang Szenisches Schreiben der UdK Berlin hinzukommt, müssten die Sätze eigentlich nur so sprudeln. Doch über das Schreiben wurde viel geschrieben, und das meiste davon hat mit Lehre wenig bis gar nichts zu tun, sondern eher mit Legendenbildung. Die vielen Mythen, Mystifizierungen und Selbststilisierungen sind meist genauso fiktional wie die Texte, deren Entstehung sie angeblich beschreiben. Wie aber übers Schreiben schreiben, ohne sich selbst zur Figur zu machen und die eigene Arbeit zu einer weiteren Geschichte?

Interessant ist die Frage, warum die Versuchung so groß ist. Die Anfälligkeit des Schreibens für Wundergeschichten und Martyrien hat nicht nur damit zu tun, dass alles Autobiographische mindestens so erfunden ist wie ein Roman. Es liegt auch daran, dass die Schreiberei eine nahezu ressourcenlose Kunst ist. Man braucht fast nichts. Früher hätte man gesagt, es reichen Stift und Papier. Heute reicht irgendein Laptop oder PC. Ansonsten sind, anders als für eine Theaterproduktion, einen Film, ein Gemälde, eine Plastik oder ein Konzert, weder materielle noch personelle Ressourcen nötig. Es gibt auch keine räumlichen oder zeitlich-organisatorischen Bedingungen, die notwendig wären. Dieses vermeintliche Nichts, aus dem heraus beim Schreiben etwas entsteht, ist an sich schon ein Mythos. Die sprichwörtliche „Schöpfung aus dem Nichts“ scheint so etwas zu sein wie die alchemistische Kernformel von Kreativität – und das Schreiben dementsprechend der Ausfluss dieser Kreativ-Alchemie: Erleuchtung und Besessenheit, Genie und Schwarzkunst, göttliche und teuflische Inspiration.

„Wie schreiben Sie?“ – Wenn diese Frage gestellt wird, geht es meist um Einblicke in die geheime Schreibtisch-Zauberei: Wie kommt man auf seine Ideen? Einfälle? Formulierungen? Wie wird aus einer Zeitungsmeldung, einer Party-Anekdote oder einem Alltagsereignis eine Geschichte? Mit einem Wort: Wie funktioniert Phantasie? 

Im Reden darüber bewegt man sich immer an der Schwelle zwischen rationalem und magischem Denken, zwischen Werkstattbericht und Aberglaube, Hand- und Hexenwerk. Ein gewisser Okkultismus gehört dazu, bis hinein in die Schreibrituale des Alltags. Irgendwann werden die Spleens und Schreibzutaten zu persönlichen Markenzeichen wie Schillers Äpfel in der Schreibtischschublade, an denen er zwischenzeitlich immer wieder roch und „eine Nase nahm“.

Wer dem Okkultismus des Schreibens abschwört und seine Arbeit so nüchtern wie möglich darzustellen versucht, der enttäuscht. Denn der Mythos des Schreibens wird nicht nur von den Autorinnen und Autoren selber genährt, sondern auch vom Publikum erwartet. Tief verwurzelt ist die Sehnsucht danach, dass es unter allen Mühen dieser Welt eine Arbeit geben möge, die schriftstellerische, die nicht wirklich Arbeit ist, die sich nicht einmal wie Arbeit anfühlt, sondern wie höhere Gewalt: Eingebungen, ekstatische Zustände und Eruptionen, in denen „es“ schreibt und nicht „ich“. An diese Magie wollen alle glauben, Schreibende wie Lesende. Sie ist – weit mehr als das Rationale – Teil des Kultischen in der „Kultur“.

Wahr daran ist, selbst in der trockensten akademischen Betrachtungsweise, dass dem Schreiben wie allen anderen künstlerischen Prozessen ein Moment von Unverfügbarkeit zu eigen ist. Auch bei größtem Aufwand an Zeit, Konzentration und Disziplin gibt es für diese Art der Arbeit keine Erfolgs- oder Ergebnisgarantie. Anders ausgedrückt: Selbst wenn man alles Menschenmögliche, alles in seiner Macht Stehende tut, ist nicht gesagt, dass es zu einem Werk führt. Etwas muss hinzukommen, sich einstellen, entstehen, das sich unserer Kontrolle und Könnerschaft entzieht. Künstlerische Arbeit findet immer an der Grenze des Machbaren statt, und sie gelingt nur, wenn sie diese Grenze auch überschreitet. Dieses Gelingen aber steht uns nicht zu Gebote. Um es mit einem Bild zu sagen: Man kann sich künstlerisch auf die Reise begeben, aber das letzte Stück Weg muss einem geschenkt werden.

Kreativität – könnte man sagen – ist die Fähigkeit des Menschen, sich selbst zu überraschen. In diesem Moment und Momentum des Unvorhergesehenen besteht die Lücke, die der Teufel ließ: das Faszinosum des Magischen, Metaphysischen, durch das ein Text größer wird als sein Autor. Doch so sehr es stimmt, dass die Kunstproduktion den Bereich des Planbaren überschreitet, so falsch wäre es zu glauben, man könne sich umgekehrt hinsetzen und auf Eingebungen warten. Zwar müssen einem die Ideen keineswegs am Schreibtisch kommen, doch ihnen geht immer eine Fragestellung voraus – bewusst oder unbewusst. Diese Arbeit des Fragens, Suchens und Versuchens ist eine Bedingung für die Idee, keine hinreichende, aber eine notwendige.

Insofern beginnt die Arbeit des Schreibens nicht mit dem Einfall, sondern mit der Frage davor. Ich persönlich halte es dabei mit dem Satz: „Not macht erfinderisch“ und suche die Not oder Notwendigkeit, die mich beim Schreiben hoffentlich erfinderisch macht. Es geht darum – und das ist die eigentliche Kunst –, sich die richtigen Aufgaben zu stellen. Jedesmal, wenn ich mir das selber wieder klar mache, muss ich an einen Kommilitonen aus Studientagen denken, dessen erster Roman damit beginnen sollte, dass ein Kind auf einer blühenden Wiese mit einem Ball spielt. Leider kam er über die Beschreibung dieser Wiese nicht hinaus. Damals konnte ich ihm nicht weiterhelfen. Heute würde ich ihm sagen: Du stellst dir die falsche Aufgabe. Wenn du nach Wochen keine Lösung hast für ein Problem, verändere das Problem, und zwar so, dass es dich produktiv macht und du deine Möglichkeiten entfalten kannst. Und wenn du einen sehr guten Tag hast, dann bringe dich in eine Not, die dich über dich hinauswachsen lässt.

John von Düffel ist Autor, Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin und Professor für Szenisches Schreiben an der UdK Berlin.