Florine Kirby, „Der Anti Turm“, 2025
Keramiken jeweils 15 x 20 cm, Holz, 300 x 130 cm
Ich baue einen Turm, der keiner ist. Die begehbare Skulptur setzt sich mit architektonischen, sozialen und symbolischen Strukturen auseinander. Ausgangspunkt ist die Tarotkarte Der Turm, die für Bruch, Umbruch und plötzliche Veränderung steht. Mich interessiert, wie sich der Moment eines Einsturzes als Ausgangspunkt für eine offene, nicht lineare Form denken lässt. Eine Struktur, die weder stabil noch abgeschlossen ist, sondern in Bewegung bleibt.
In der Architektur und der Kulturgeschichte steht der Turm für Kontrolle, Macht, Beherrschung. Er ist vertikal, monumental, ein Instrument der Abgrenzung. Ob Wachturm, Kirchturm, Büroturm: Das alles sind Orte der Überlegenheit und Isolation. Sie sind Ausdruck patriarchaler, funktionaler Systeme, zuweilen phallische Symbole. „Der Anti Turm“ stellt sich gegen dieses Bild. Seine Struktur ist offen, durchlässig, instabil. Vier Seiten, jede mit einer eigenen Ordnung, formen eine fragile Konstruktion aus Holzlatten. Die Wiederholung der Latten erzeugt eine Art visuelles Raster, das an ein Notensystem erinnert. An diesen Linien erscheinen punktuell keramische Fragmente. Jedes Stück ist einzeln geformt, gezeichnet, geprägt. Sie sind meine persönlichen Interpretationen verschiedener Tarotkarten, nicht als festgelegte Bildsymbole, sondern als gestisch, materiell und intuitiv erforschte Zustände. Die Keramiken wirken wie Erinnerungen, Projektionen oder Zeichen. Einige erzählen, andere bleiben abstrakt. Die Zwischenräume sind nicht leer, sondern bedeutungsvoll.
Wir leben in einer Zeit, in der viele gewohnte Strukturen brüchig werden. Politische Instabilität, gesellschaftliche Polarisierung, ökologische Krisen, all das erzeugt ein Gefühl von Unsicherheit, das auch Räume betrifft. Was früher als stabil galt, ist plötzlich prekär. „Der Anti Turm“ reagiert auf genau dieses Gefühl. Er ist eine architektonische Form der Verletzlichkeit und ist ambivalent. Er kann ein Rückzugsort sein, ein Nest, ein schützender Raum. Aber auch ein Käfig. Eine Begrenzung. Ein Raster, das hält oder einsperrt. Mich interessiert diese Spannung: zwischen Schutz und Einschränkung oder zwischen Hoffnung und Gefahr. Vielleicht ist er auch ein Bild für das Ich. Ein Körper im Raum, der offen bleibt und dennoch Struktur braucht.
„Der Anti Turm“ blickt auch auf die Zukunft. Wie können architektonische Formen Fürsorge und Erinnerung tragen, ohne zu kontrollieren oder zu begrenzen? In diesem Sinne ist „Der Anti Turm“ auch eine spekulative Architektur. Eine Vision von einem Raum, der nicht funktional ist, sondern menschlich.
Die theoretischen Bezüge reichen von Henri Lefebvres Idee des produzierten Raumes bis zu Gaston Bachelards Denken über den Raum als Träger des Inneren. Auch das „récit de soi“, die Erzählung des Selbst, spielt eine Rolle. Der Turm wird zum Ort für persönliche Einschreibungen, für Fragmente, die keinen festen Ort haben. Wie eine Karte. Die Arbeit ist im Atelier entstanden, prozesshaft, über Skizzen, Modelle, Materialversuche, Recherchen. Ihre Offenheit ist Teil ihres Konzepts. „Der Anti Turm“ ist kein fertiges Objekt, sondern ein Versuch. Eine offene Struktur, die sich verändert, abhängig davon, wer sie betrachtet, betritt oder verlässt.
Florine Kirby studiert Bildende Kunst in der Klasse von Prof. Valérie Favre, ab Oktober Klasse Prof. Simone Haack.