Teo Modoi, Klasse Streuli: Oberflächenspannung
Das kulturelle Klima zeitgenössischer Kunst ist von Fragmentierung geprägt. Gegensätzliche gesellschaftliche Energien erzeugen eine dissonante Umwelt, in der Pluralismus Wahrnehmung und Reaktion bestimmt. Die Ausstellung „Oberflächenspannung“ zeigt diese Brüche nicht als Scheitern, sondern als neue Funktionsweise, die zum Denken in komplexen, adaptiven Strukturen einlädt. Die Künstlerinnen nutzen unterschiedliche Medien, Metaphern und Symbole, um das Verhältnis von Schein und Sein, Oberfläche und Substanz zu untersuchen – ob in Fleisch, Stoff, Ernährung oder Erinnerung. Ohne einheitliche Ästhetik fordern die Arbeiten dazu auf, den verführerischen Bildern von Medien und Popkultur kritisch zu begegnen. Der Raum 114 der Klasse Streuli in der Hardenbergstraße 33 wird so zu einem Ort, an dem Fragmentierung auf Reflexion trifft. Lena Braatz, Emma Broska, Mathilde Busse, Flora Coupin, Shirin Käfer, Hana Miyata, Annmagrit Möller und Leo Rhian verhandeln hier die Schnittstellen von Materialität, Identität und gesellschaftlichem Kontext. Im Zentrum steht die Frage, was es bedeutet, in der brüchigen Gegenwart zu leben.
Das Spannungsfeld zwischen Schein und Sein prägt Leo Rhians künstlerische Praxis. Ihre Installationen sind zugleich verführerisch und konzeptuell – sie ziehen durch Farbe, Glanz und spielerische Formen an, um dann tiefere Fragen nach Zeichen, Strukturen und Machtverhältnissen aufzudecken. Diese bunte Oberfläche, die an Kindheit, Internetkultur und Massenmedien erinnert, wird zum Tarnmantel für eine subtile Kritik an Systemen, die Identität, Wissen und Werte normieren. Rhians Arbeiten setzen nicht auf eine eindeutige Lesart: Sie entfalten ihre Bedeutung erst im Zusammenspiel mit den Erinnerungen und Erfahrungen der Betrachtenden – ein Prozess, der an poststrukturalistische Lesarten von Bedeutung erinnert.
Auch die Dimensionen ihrer Skulpturen spielen mit Wahrnehmung: Manche wirken, als seien sie für Kinder gedacht, andere zwingen die Betrachtenden in ungewohnte Haltungen. So wird die physische Auseinandersetzung mit dem Raum zugleich Spiegel eines sozialen Bedürfnisses nach Dialog und Teilhabe. Die Objekte verändern ihre Bedeutung je nach Aufmerksamkeit – wie in Kinderspielen des Rollentauschs. Doch Rhian führt dieses Spiel weiter: Sie fragt, was es in einer Welt bewirken kann, die längst in Fragmente zerfallen ist.
Die Schnittstelle von Material und sozialer Ordnung bildet den Kern von Shirin Käfers Praxis; die Körperlichkeit ihrer Skulpturen ist der konzeptuelle Ausgangspunkt. Alltägliche Objekte erscheinen hier nicht nur als Symbole gesellschaftlicher Ungleichheit, sondern als spürbare Verkörperungen von Ausgrenzung und Marginalisierung.
Käfer arbeitet mit Gelatine – einer fragilen, fleischähnlichen Substanz –, die sie in die Form einer Toastscheibe gießt. Damit knüpft sie sowohl an kunsthistorische Symbolik und handwerkliche Tradition (der Guss) als auch an industrielle Lebensmittelproduktion an. Die physikalische Natur der Gelatine – Vergänglichkeit, Schrumpfen, Zerfall – überträgt sich auf gesellschaftliche Zustände: Verletzlichkeit, Instabilität, Unsicherheit. Das Motiv selbst verweist auf das industriell gefertigte Massenprodukt: allgegenwärtig, billig, jedoch arm an Nährstoffen. Gerade dieser Widerspruch zwischen Verfügbarkeit und Mangel eröffnet eine Untersuchung von Konsumkultur, sozialer Klasse und der verfänglichen Rhetorik „gleicher Chancen“. Zugang bedeutet hier weder Qualität noch Gleichheit. Indem Materialität zur Kritik wird, wo Knappheit und Überfluss ineinander fließen, positioniert sich Käfers Werk zwischen hermeneutischer Reflexion und sinnlicher Erfahrung. Aus der Spannung von roher Materialpräsenz und kritischem Diskurs entsteht ein offenes Feld für Fragen nach Konsum, Identität und gesellschaftlicher Ordnung.
Teo Modoi, Kuration + Texte, studiert Bildende Kunst in der Klasse von Prof. David Schutter und ist DAAD-Stipendiatin. Leo Rhian und Shirin Käfer studieren Bildende Kunst in der Klasse von Prof. Christine Streuli.