Die Laterne und der Scheinwerfer
Flanierende Blicke, tastende Suchbewegungen, kontemplatives Schweifen im Raum bei gleichzeitigem Verlust von linearem Zeitgefühl – all diese Zustände und Prozesse sind der besonderen Aufmerksamkeitsfähigkeit von Kindern eigen, die von Offenheit, Weite und Gleichzeitigkeit geprägt ist. Konkret kann diese Aufmerksamkeit von Kindern ihren Ausdruck in einem Sammeln und Auslegen von Dingen, Klängen, Spuren und Bildern finden. Immer wieder entstehen dabei neue Ordnungen, in die sich die Kinder vertiefen, und die sie mit inneren wie äußeren Bildern verdichten.
Die amerikanische Psychologin Alison Gopnik beschreibt diese spezifische Form der Aufmerksamkeitsfähigkeit mit Hilfe der Metapher der Laterne. Im Gegensatz zum Scheinwerfer „erwachsener“ Kognition,
der selektiv fokussiert und hierarchisch ordnet, operiert die Laterne als Modus diffuser, nichtgerichteter Wahrnehmung, die das gesamte Wahrnehmungsfeld gleichmäßig „ausleuchtet“. Die Erkenntnisweisen von Kindern, so Gopnik, beruhen auf mannigfaltigen Interessen, ausgeprägter Neugier sowie explorativen und experimentellen Zugängen zur Welt. Diese epistemische Haltung kann als ästhetisches Paradigma verstanden werden: als Form der Aufmerksamkeit, die ästhetische Erfahrung selbst zum Ort des Denkens macht. (A. Gopnik, The Philosophical Baby. What Children’s Minds Tell Us about Truth,
Love, and the Meaning of Life, 2009)
Die ästhetische Qualität laternenhafter Aufmerksamkeit
Im Kontext ästhetischer Erfahrung lässt sich Gopniks Laternen-Metapher mit Jacques Rancières Konzept der Aufteilung des Sinnlichen verbinden. Ästhetische Wahrnehmung wie Erfahrung sind für den französischen Philosophen kein passiver Prozess, sondern eine politische und poetische Praxis, die bestimmt, was sichtbar, hörbar oder denkbar wird. Die Laterne als Bild für die spezifische Wahrnehmung von
Kindern kann somit als ästhetische Figur eines „Dazwischen“ gelesen werden. Sie beschreibt einen Zustand, in dem sich Subjekt, Objekt und Kontext noch nicht voneinander trennen. (J. Rancière, Le partage du
sensible. Esthétique et politique, 2000)
Diese wahrnehmend-ästhetische Haltung manifestiert sich in der Gegenwartskunst vielfach als Praxis des Entdeckens, des Sammelns, des Verbindens – als „noticing“ im Sinne Gopniks. Strategien, die die
Wahrnehmung dezentrieren und entsprechende Möglichkeitsräume erfahrbar machen, lassen sich als künstlerische Entsprechungen des Laternen-Modells verstehen. (A. Gopnik, The Gardener and the Carpenter.
What the New Science of Child Development Tells Us about the Relationship between Parents and Children, 2016)
Sechs Beispiele für künstlerische Praktiken im Bild der Laterne
Olafur Eliasson inszeniert zum Beispiel in Arbeiten wie „The Weather Project“ (Tate Modern, 2003) immersive Umgebungen aus Licht, Nebel und Spiegeln, die eine synästhetische Öffnung des Wahrnehmungsfelds
bewirken. Installationen wie diese erzeugen dabei keine fokussierte Betrachtung, sondern ein leib-sinnliches Eintauchen in ein Feld diffuser Atmosphäre. Der Raum selbst wird zum Labor, in dem Sehen, Fühlen und Erkennen ineinander übergehen.
Ein ähnlicher Modus findet sich in den „Cabinets of Curiosity“ von Mark Dion, etwa in „The Marvelous Museum“ (2010). Dion reaktiviert hier frühneuzeitliche Wissensordnungen und stellt dabei deren Klassifikationslogiken infrage. Seine Sammlungen fungieren in dieser Weise als ästhetische Versuchsanordnungen, in denen das Heterogene nebeneinander bestehen darf. Das Sammeln wird hier zur erkenntnisgenerierenden Praxis, in der ein bewusstes Wahrnehmen des Ungeordneten den Blick auf das vermeintlich Marginale lenkt.
Camille Henrots Videoarbeit „Grosse Fatigue“ (2013) überführt diese in eine audiovisuelle Poetik der Überfülle. Durch die simultane Montage von Bildschirmebenen, Texten und Sounds entsteht ein assoziatives
Geflecht, das der digitalen Überreizung unserer Zeit entspricht, zugleich aber ein Bewusstsein für die Gleichzeitigkeit fördert. Henrots Werk evoziert damit den Zustand der laternenhaften Wahrnehmung, die die gleichzeitige Präsenz multipler Reize und Bedeutungen – noch nicht hierarchisch geordnet – zum Erscheinen bringt.
In den Audio-Walks von Janet Cardiff und George Bures Miller, etwa „Her Long Black Hair“ (2004), wird die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf unscheinbare Details gelenkt, konkret auf Geräusche,
Spuren und zufällige Begegnungen. Das Werk aktiviert dabei eine Form des Hörens und Sehens, die die Grenze zwischen Fiktion und Realität verwischt und das Bewusstsein auf das „Zwischen“ der Wahrnehmung
lenkt.
Eine ökologische Fokussierung im Kontext des Modells von Alison Gopnik ist in den Arbeiten von Tomás Saraceno, insbesondere in der Serie „Particular Matter(s)“ (ab 2018), zu erkennen. Denn Saraceno macht in diesem Zusammenhang die Verflechtung von Atmosphären, Partikeln und Lebewesen sinnlich erfahrbar und fordert auf diese Weise eine nichtanthropozentrische Aufmerksamkeit ein. Seine Installationen
konstruieren „Laternen“-Räume im Sinne einer relationalen Wahrnehmung, in denen das Subjekt nicht Zentrum, sondern Teil eines Netzes ist.
Schließlich bringt Christian Marclays „The Clock“ (2010) die laternenhafte Aufmerksamkeit auf der Ebene der Zeitwahrnehmung zum Ausdruck. In der 24-stündigen Montage tausender Szenen aus Film und
Fernsehen, in denen Uhren und Zeitmesser vorkommen, wird das Sehen durch die Synchronisation der realen Uhrzeit und Fiktion zu einem Prozess simultaner Wahrnehmung und Reflexion.
Zusammenfassend können die angeführten künstlerischen Beispiele in Anlehnung an Gopniks Modell der Laterne als Ausdruck einer epistemischen Haltung gelesen werden, die Wahrnehmung nicht auf
Effizienz oder Zielorientierung hin ausrichtet, sondern auf eine Aufmerksamkeit für Relation und Resonanz. Letztlich zeigt sich hier ein Denken im Modus des Staunens, das nicht nur in der Kunst der Gegenwart
seine exemplarische Form findet, sondern das explizit Kindern eigen ist, und zwar von Anfang an.
Dr. Kirsten Winderlich ist Professorin für Ästhetische Bildung in der
Kindheit, Kunstdidaktik/Grundschule und Leiterin der Grundschule
der Künste. Dieser Text inkl. der vollständigen Literaturliste,
Zitatnachweisen und genauen Angaben zu den Werken findet sich
auf der Webseite des journals: www.udk-berlin.de/journal
Auf dem Foto:
Ein Workshop der grund_schule der künste an der Floating University Berlin. Was lässt sich auf dem Gelände in Kreuzberg entdecken, was im Wasser, an den Rändern zum Wasser und zwischen den Pflanzen beobachten? An welchen Stellen passiert etwas Besonderes? Gibt es Zeichen, die uns etwas Bestimmtes sagen wollen? Was? Mit Gesammeltem, Fundstücken, Pigmenten, Graphit-Stiften, aber auch Erde
und Schlamm entsteht eine kollektive Arbeit, die den besonderen Ort „ausleuchtet“ und zum Bild werden lässt. floating-berlin.org