Die Stimme als Material

Kai-Uwe Jirka im Gespräch mit Hartmut Regitz

„Material Stimme“: Ist das nicht ein Widerspruch in sich? Handelt es sich bei der Stimme letztlich nicht um etwas Immaterielles?

Ja und nein. Vom „schönen Material“ ist manchmal in den Aufnahmeprüfungen meiner Gesangskollegen die Rede. Und eine Aussage wie „Daraus kann man etwas machen“ leitet sich meiner Meinung nach aus einem Kunst-Leistung-Kontext her – als ob die Stimme einem rohen Stein vergleichbar wäre, den man irgendwie gestalten und behauen könnte.

So einfach ist es nicht.

Nein. Ich finde auch, dass der Begriff in der Pädagogik nicht passt. Wir sprechen weniger vom Material, weil dabei ein großer Teil der Gesamtpersönlichkeit nicht berücksichtigt wird. Wir wollen in der Kinder- und Jugendarbeit ja nicht nur eine Stimme ausbilden. Uns geht es letztlich darum, den Körper als ein Ganzes erfahrbar zu machen, Resonanzräume zu erschließen und sich intensiv mit dem auseinanderzusetzen, was man singt. Die Stimme ist dabei erst einmal nur ein Werkzeug, das ich für verschiedene Sachen einsetzen kann.

Wann genau spricht man denn von Stimmmaterial?

Das ist unterschiedlich. Bei uns findet sich gelegentlich der Begriff, wenn die organischen Voraussetzungen bezeichnet werden, die Stimmlippen, der gesamte Apparat. Einfach, wenn man merkt, dass eine Stimme frei schwingt und wie von selbst eine ganz natürliche Klangkraft hinzukommt oder eine bestimmte Farbe, die eine Stimme leuchten lässt.

Auch eine Größe?

Ja. Eine Mischung aus Leuchtkraft und Größe. Chöre, die sich vermarkten, müssen schon ihrer Erkennbarkeit wegen auf ein bestimmtes Erscheinungsbild achten. Das ist bei uns anders. Wünscht sich ein Chorleiter einen homogenen, geschlossenen Klang, stellt sich natürlich die Frage, wie man mit Individualisten umgeht, deren Stimme ein besonderes Klangtimbre hat. Integriere ich sie ins Kollektiv, d. h. beschneide ich sie – oder lasse ich zu, dass einige individuelle Stimmen dieses Klangideal verändern?

Wie halten Sie es beim Staats- und Domchor, der als Knabenchor der Universität der Künste Berlin angeschlossen ist?

Natürlich achten wir zunächst auf einen gemeinsamen Klang, aber wir wollen gleichzeitig individuellen Klangfarben Raum geben. Eine Stimme haben, heißt nicht nur, ein Stück singen zu können, das heißt auch, eine Haltung zu entwickeln: „Ich habe eine Stimme.“

Ein vielfarbiger Chor also?

Ja, dessen Klang sich alle zwei Jahre verändert, weil andere Kinder dazukommen. Wir halten den Klangraum so offen wie möglich.

Wie nehmen Sie darauf Einfluss?

Wir haben sehr viele, sehr verschiedene Stimmbildner. Stimmbildnerinnen, müsste man eher sagen. Jede arbeitet gemäß ihrer eigenen Ausbildung. Aber wir haben ein Team zusammengestellt, bei dem immer das Kind im Mittelpunkt steht.

Sie arbeiten die Individualität der Stimme heraus?

Wenn man immer in der Gruppe singt, weiß man manchmal nicht mehr, wie die eigene Stimme klingt und fragt sich: Wer singt da eigentlich? Was natürlich ein schöner Effekt sein kann, dieses Verschmelzen des Klangs. Es geht darum, zugleich selber eine individuelle Stimme zu haben, diese Stimme aber auch in eine Gemeinschaft einbringen zu können. Deshalb hat jeder Junge alle zwei Wochen 20 Minuten lang eine Einzelstimmbildung, damit er die eigene Stimme bewusst wahrnimmt und in Zusammenarbeit mit dem Pädagogen ihren Umfang, ihre Stimmkraft, ihre technischen Möglichkeiten erweitern kann. Bei den Jungs passiert zwischen dem zehnten und dreizehnten Lebensjahr ja sehr viel in der Entwicklung, was das Körperliche betrifft. Sobald der Junge zu wachsen beginnt, wächst auch sein Lungenvolumen, das heißt er kann von einer Woche zur anderen lauter singen, ein Prozess, den man sorgsam begleiten muss.

Wächst die Stimme besser, wenn sie ausgebildet wird, oder wächst sie sowieso?

Beides. Die Stimme verändert sich durch das Wachstum des Körpers. Sie bekommt eine andere Farbe. Einen anderen Umfang.

Beim Tanz beispielsweise prägt die Ausbildung den Körper erkennbar. Ist das beim Singen ähnlich?

Das ist bei der Stimme nicht ganz so. Oft sind es verborgene Fähigkeiten, die mit der Stimme wachsen. Man lernt Dinge über das Zusammenspiel von Atem, Atem geben, Stimme aktivieren – und eine bestimmte Emotionalität. Erfahrungen über Resonanzräume, Koloraturtechniken usw. bleiben einem über den Stimmwechsel hinaus erhalten.

Bleiben wir beim Stimmbruch, weil er nicht zuletzt das Materielle einer Stimme erkennbar macht.

Das Wort Stimmbruch vermeiden wir, weil nicht wirklich etwas bricht. Wir reden eher von einem extremen Wechsel der Stimmlagen. Wenn die Jungs um einen Zentimeter wachsen, können die Stimmlippen ganz anders schwingen, und das ergibt dann diesen extremen Lagenwechsel.

Sie sagen Stimmwechsel?

Die Stimme wechselt einfach ihre Lage, und das ganz unterschiedlich. Wir haben Stimmen, die langsam eine Oktave tiefer gleiten. Wir hatten aber auch Jungs, die ihre Knabenstimmen fast gänzlich erhalten konnten, obwohl darunter die Männerstimme weiterwuchs. Auf jeden Fall handelt es sich dabei um einen einschneidenden Prozess. Schließlich erleben die Jungs in frühen Jahren zum ersten Mal eine Form von Endlichkeit: Irgendetwas geht nicht mehr. Wir haben deshalb die Gruppe „Voces in spe“ gegründet, um dieses Schockerlebnis richtig verarbeiten zu können und sie auf ihre künftige Stimme vorzubereiten. Unserer Philosophie nach verlangt die Stimme danach erst mal nach einer Pause vom leistungsmäßig betriebenen Singen.

Trotzdem arbeiten Sie weiter an der Stimme. Beim Stimmbruch handelt es sich ja nicht um eine Form von Materialermüdung.

Es handelt sich um eine Veränderung, der man heutzutage durchaus Positives abzugewinnen weiß. Vorausgesetzt, man lässt die Jungs entdecken, was eigentlich mit ihnen passiert, wie das Michael A. Krois einmal im Rahmen eines musikpädagogischen Projektseminars an der UdK Berlin gelungen ist. Er komponierte für diese „Zwischenzeit“ kleine Stücke und machte den Jungs bewusst, welche Klänge sie nur während dieser organischen Veränderung produzieren können: Multiphonic-Klänge, wie wir das bei den Holzbläsern nennen, Spaltklänge. Eine Komposition, „(Um)brüche“ genannt, wurde 2010/11 während einer Andacht aufgeführt. Auf YouTube findet sich dazu eine kleine Dokumentation.

Zurück zum „Material Singen“. Ist Singen am Ende doch Körperarbeit, wenngleich eine künstlerische?

In einem hohen Maße. Erst der selbstbewusst eingesetzte Körper ermöglicht einen besonderen Klang. Wer gelernt hat, gut zu artikulieren, klar zu sprechen, Resonanzräume zu nutzen und seine körperlichen Möglichkeiten gezielt einzusetzen, dem wird es keine Mühe bereiten, vor der Schulklasse ein Referat zu halten.

Der Körper ist das Material.

Aber nicht alles ist Materie. Es gibt auch noch die geistige, die geistliche Dimension. Unsere Jungs haben eine klare Vorstellung davon, was beispielsweise die Bilder in einer Bach-Kantate bedeuten. Und wenn sie etwas nicht aus der Anschauung kennen, dann fragen sie nach und wollen es auch denken können. Beim Chorsingen mischen sich Material, Körperarbeit und geistige Auseinandersetzung auf eine besondere Weise. Man sondert nicht einfach Töne ab, sondern versieht sie mit Sinn und Geist. Und wenn eine Aufführung gelingt, dann hat jeder Einzelne mit seiner Individualität Teil an einem sehr fragilen Gesamtkunstwerk.

Kai-Uwe Jirka ist Professor für Chor/Chorleitung am Institut für Kirchenmusik und Geschäftsführender Direktor des Staats- und Domchors. Hartmut Regitz ist Musikkritiker und Autor und zählt zu den wichtigsten Tanzjournalisten in Europa.