Altfinstermünz. Im Schattental
Gibt es Schatten in der Musik?
 Schatten, ist ja ein Begriff aus der bildenden Kunst und wird sofort
 interessant, wenn man ihn als Metapher und Bild auch auf Töne anwendet.
 Meine letzte Arbeit war Ende Juni in Altfinstermünz, einem
 Grenzort, tief unten im Inntal zwischen Engadin und Tirol. Es war eine
 gemeinsame Arbeit mit dem Regisseur Enrico Stolzenburg, eine
 Landschaftskomposition, eine „Grenzüberschreitung“.
 Das Tal dort ist sehr tief und die Sonne kommt nicht überall hin.
 Daher gibt es im Hochsommer bei Tageslicht zwar verschiedene
 Helligkeitszustände, aber so gut wie keinen Schatten,
 und um 17.30 Uhr ist die Sonne weg.
 Enrico Stolzenburg und ich haben den Lichteinfall im Tal beobachtet und
 ausgerechnet, wie viel Licht und wie viel Schatten wann und wo vorhanden
 ist. Davon ausgehend, habe ich komponiert.
War Schatten das Thema?
 Nicht direkt, das Thema war der Ort: Altfinstermünz. Der Schatten,
 das „Finstere“ ist schon im Namen angelegt. Lesbar auch als „finstere
 Münze“, also Schwarzgeld. Hier muss viel geschmuggelt worden sein.
 Altfinstermünz war bereits im späten Mittelalter eine Zollstation, bis
 heute verläuft dort die Landesgrenze zwischen Österreich (Tirol) und
 der Schweiz (Engadin), die Grenze zu Italien (Vinschgau) ist nur einen
 Steinwurf entfernt. Uns hat diese Grenzsituation interessiert und die
 Topographie der Inn-Schlucht. Ganz in der Nähe liegt ein weiteres,
 tief eingeschnittenes Tal, das Bergell, wo vier Monate lang im Winter
 keine Sonne hinkommt. Dort ist der Bildhauer Alberto Giacometti
 aufgewachsen, seine langen, dünnen Figuren assoziiere ich immer mit
 dieser Landschaft.
Wie kommt man auf die Idee, an einem solchen Ort zu inszenieren?
 Der Anlass war ein Musiktheater-Festival zum 500sten Todestag von
 Kaiser Maximilian: „Die sieben Leben des Maximilian“. Eine von sieben
 „Volksopern“ für das Land Tirol, mit und für die Menschen, die
 dort wohnen. Die Burg in Altfinstermünz war Kulisse und Haupt-Protagonist
 unserer Klang-Aktion. Bei unserer ersten Begehung
 von der Tiroler Seite aus waren wir sofort fasziniert von diesem Schattenloch.
Und dann war ich überrascht, dass hinter der verlassenen Brücke die
 Schweiz beginnt. Als Schweizer kenne ich doch die Schweiz, dachte
 ich, aber aus dieser Perspektive, von der Rückseite, habe ich sie noch
 nie gesehen ...
 Es ist ein düsterer Ort, eine vergessene Gegend, man hat das Gefühl,
 die Welt ist hier zu Ende, egal von welchem Land aus man auf die
 Grenze schaut. Auch historisch ist es interessant. Altfinstermünz lag
 an der Via Claudia Augusta, einem alten römischen Hauptverkehrsweg
 über die Alpen. Es war damals schon eine Zollstation, da ging
 es auch um Wegrechte. Zur Zeit Maximilians war die Region Schauplatz
 von kriegerischen Auseinandersetzungen. An dieser Stelle treffen
 nicht nur Landesgrenzen aufeinander, sondern auch konfessionelle
 Grenzen. Die Tiroler Seite ist sehr katholisch, die Engadiner
 Seite sehr protestantisch. Und es ist eine Sprachgrenze. Der Nauderer
 Dialekt auf der Habsburger Talseite ist auch für österreichische Ohren
 ungewohnt. Am Schweizer Ufer wird Valader gesprochen, eine
 rätoromanische Sprache, verwandt mit dem Rumänischen von weiter
 flussabwärts.
 Der Titel unserer Klang-Aktion ist auf Valader: „Fin al
 cunfin“, was auf deutsch soviel heißt wie „hin zur Grenze“ oder „bis
 zur Grenze“. Die Grenzen selbst sind heute offen.
Das ist eine sehr komplexe Situation, geografisch, politisch, kulturell
 … eine interessante Schnittstelle mitten in Europa. Wie sieht es nun
 heute am Ende der Welt aus?
 Der ehemalige Bürgermeister von Nauders – auf der österreichischen
 Seite – hat die Burg am Inn, also diese Zollstation, vor 20 Jahren wieder
 aufgebaut. Und er hat sich mit dem Bürgermeister von Tschlin auf
 der Schweizer Seite, und dem Bürgermeister von Reschen am Reschenpass
 auf der italienischen Seite verbündet. Alle drei haben jahrelang
 auch für grenzüberschreitende öffentliche Verkehrsverbindungen gekämpft.
 Heute gibt es einmal pro Stunde eine Busverbindung aus jedem
 der drei Länder zur Grenze und wieder zurück. Das Ganze hat
 also auch eine soziale Dimension, die uns sehr interessiert hat.
Und wie entsteht eine Landschaftskomposition? Arbeitet man ausschließlich
 dort?
 Nein, nicht ganz, aber ich war sehr oft da, zusammen mit Enrico Stolzenburg.
 Wir haben viele Tonaufnahmen gemacht, Lage-Skizzen gezeichnet,
 um den Ort zu erforschen. Von Anfang an haben uns Musiker
 aus Tschlin und Nauders begleitet, meistens mit Trompete oder
 Posaune und verschiedene Orte akustisch getestet. Relativ rasch haben
 wir eine Art Echo entdeckt, also eine Reflexion von Tönen. Wir
 sind eben nicht nur direkt vom Licht ausgegangen, sondern haben
 auch die Töne zu verschiedenen Tageszeiten ausprobiert und die klanglichen
 Effekte studiert.
Eine Art akustisches Kartografieren und Vermessen des Ortes?
 Ja, genau. Und das war doppelspurig angelegt. Die eine Spur ist die
 akustische Forschung: Wie reagieren Klänge, wie reagieren welche Instrumente
 wo. In erster Linie auf das Hören bezogen, aber auch natürlich
 auf die Sichtbarkeit, auf das Licht. Wo gibt es Stellen, wo man
 nur hört, aber nichts sieht. Und die andere Spur ist intuitiv – es geht
 ja ums Komponieren und nicht um wissenschaftliche Forschung. Und
 im Idealfall kommen Intuition und Klangforschung an einem Punkt
 zusammen.
Wie sah nun die Inszenierung, die Volksoper aus?
 Wir haben mit den Menschen aus den Dörfern der drei Länder gearbeitet,
 mit Blaskapellen und Chören. Die Nachkommen derer, die
 sich damals bekriegt haben, machen jetzt zusammen Musik. Es gab
 zwei Aufführungen: Die erste fing in Österreich an und führte über
 die Burg Altfinstermünz in die Schweiz. Zwei Stunden später dann
 der umgekehrte Weg. Wir wollten eine Pendelbewegung inszenieren,
 auch durch verschiedene Lichtsituationen. Und dann gab es einen
 eher installativen Teil unten, in der Burg, mit sehr leisen instrumentalen
 Klängen zu Tonaufnahmen vom Inn. Darüber habe ich noch
 gar nicht nachgedacht, aber jetzt, wo wir darüber sprechen: Ja, natürlich,
 der finstere Name assoziiert auch düstere Klänge. Die gewalttätige
 Vergangenheit des Ortes sitzt noch in den Mauern, die Düsternis
 ist zu spüren.
Was haben dann die Zuschauer dann gemacht?
 Die Zuschauer haben die Komposition im Gehen gehört, und dabei
 die Pendelbewegung der Musik nachgezeichnet: von Österreich in
 die Schweiz und zurück. Die beteiligten Musikerinnen und Musiker
 formierten sich zu einem Maximilianischen Triumphzug, der den Zuschauern
 entgegenkam, und der sich aus der Nähe auf seiner Rückseite
 als Totentanz entpuppte. Am Tag der Aufführung waren es 37
 Grad, und alle haben den Schatten gesucht. Und den gab‘s nur auf der
 Engadiner Talseite.
Musik und Komponieren hat für dich nicht nur mit Zeit, sondern sehr
 viel mit Raum zu tun. Und dort gibt es Licht und Schatten.
 Das stimmt. Es ist einfach die Frage, von welchem Musikbegriff ich
 ausgehe. Wenn ich von einem eher traditionellen Musikbegriff ausgehe,
 besteht Musik aus Klangfarbe, Tempo, Tonhöhe und Lautstärke.
 Schatten kommen darin eher assoziativ vor, zum Beispiel als „Klangschatten“.
 Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich der Musikbegriff stark
 erweitert, zum Beispiel durch das Instrumentale Theater von John
 Cage, Mauricio Kagel und Dieter Schnebel. Unter dem Stichwort „visible
 music“ entstand u. a. Musik ausschließlich für die Augen. Das
 Bewusstsein für den Raum, in welchem die Musik stattfindet, wurde
 geschärft. Musik erhielt einen Körper. Für mich ist Musik immer eine
 performative Kunst, hoch theatralisch, selbst wenn sie aus einem
 Lautsprecher kommt.
 Ich habe verschiedene Landschafts-Projekte mit Lichtwechsel komponiert,
 Klang-Aktionen zum Sonnenuntergang oder zum Sonnenaufgang.
 Zwielicht ist ein großes Thema in der Musik, der Übergang vom
 Sichtbaren zum Unsichtbaren.
Daniel Ott ist Professor für Komposition und Experimentelles
 Musiktheater und leitet Klangzeitort, Institut für Neue Musik Berlin,
 ein Laboratorium für musikalische Komposition.
 Das Gespräch führten Marina Dafova und Claudia Assmann.