Design As An Agent Of Change
Ein Gespräch mit Alice Rawsthorn und Ineke Hans
Design hat ein sich ständig veränderndes amorphes Wesen. In den letzten Jahrzehnten haben sich Designer von eher kommerziellen hin zu sozial, politisch und ökologisch engagierten Gestaltern entwickelt. Alice Rawsthorn hat in ihrer bemerkenswerten Karriere als Designkritikerin und Autorin u. a. für die New York Times das Feld beobachtet und diese Entwicklung enthusiastisch unterstützt. Ihr letztes Buch, wie auch der Vortrag, den wir gerade gehört haben, heißt „Design as an Attitude“ – Design als Haltung. Es ist ein energisches und enthusiastisches Manifest für Design als einen aktiven Handlungsagenten. Gastgeberin ist Ineke Hans, Initiatorin der „German Design Graduates“-Ausstellung, die Arbeiten aus zwölf Kunsthochschulen im Kunstgewerbemuseum zeigt. Wir sitzen in einem der grau-klirrenden ebenerdigen Flure des Gebäudes und sprechen weiter über gutes und schlechtes Design, Kunst und Doc Martens.
Design als Haltung, das ist eine Idee, die von László Moholy-Nagy stammt, Künstler, Gestalter, visionärer Theoretiker, eine der schillerndsten Figuren des frühen 20. Jahrhunderts …
Alice Rawsthorn: Moholy-Nagy starb im November 1946, sein „Vision in Motion“ wurde im folgenden Jahr veröffentlicht. Es präsentiert eine eklektische und handlungsaktive Vision von Design, die er im zweiten Kapitel des Buches mit den Worten zusammenfasst: „Design ist kein Beruf, sondern eine Einstellung“. Im Laufe seiner Karriere hat er Design als Disziplin wieder erfunden, es aus der Enge einer „Spezialistentätigkeit“, die es seit der industriellen Revolution eingenommen hatte, befreit und neu definiert als ein improvisierendes Medium, das im Instinkt verwurzelt ist, im Experimentieren und offen für alle sein kann. Dieses Zitat habe ich als Titel meines letzten Buches gewählt, weil ich glaube, dass Moholy-Nagys Konzept von Design ein kontinuierlicher Prozess von Experimentieren ist und eine bestimmende Kraft für eine neue Generation von Gestaltern heute sein kann. Für mich ist Design ein komplexes und schwer fassbares Phänomen. Zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kontexten hat es immer etwas anderes bedeutet, so dass es anfällig für Verwirrungen, Missverständnisse und Klischees ist. Doch Design hatte schon immer eine maßgebliche Rolle als ein „agent of change“, der auch auf Veränderungen jeglicher Art reagieren kann – sozial, politisch, wirtschaftlich, wissenschaftlich, technologisch, kulturell, ökologisch –, um sicherzustellen, dass diese Veränderungen sich nicht negativ, sondern positiv auf uns auswirken. Und das tut Design schon seit Jahrhunderten, lange bevor ein Wort dafür gefunden wurde, das es beschreibt. Wann immer sich der Mensch an Veränderungen in seinem Leben angepasst hat, ob durch die Schaffung neuer Objekte oder neuer Strukturen oder durch Adaptieren seines Verhaltens oder das anderer, er war immer ein Designer – meist unwissentlich, intuitiv.
Diese Haltung, davon gehen Sie aus, hat die Absicht, Gutes zu schaffen, die Welt zu verbessern. Was ist schlechtes Design?
Rawsthorn: Gutes oder schlechtes Design wird gänzlich von den Konsequenzen bestimmt, die es hat. Viele gute Absichten haben allerdings nicht selten sehr schlechte Folgen. Auch gibt es Beispiele für schlechtes Design, das willentlich und absichtlich dafür benutzt wird, uns vor etwas zu beschützen – etwa die grauenvollen Fotos auf Zigarettenschachteln. Ein anderes Beispiel, das brutale Konsequenzen hat, sind die sogenannten anti-homeless spikes, Stahlspitzen, die in vielen Städten auf den Trottoirs vor teuren Gebäuden installiert werden, sodass Obdachlose sich dort nicht niederlassen können.
Design ist immer manipulativ.
Rawsthorn: Ja, und ob es gutartig oder bösartig ist (benign or malign), hängt von der Perspektive ab. Ein Triumph des Designs zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren Verkehrszeichen. Es gab einen politischen Konsens darüber, das Verhalten im Straßenverkehr zu regulieren. Akzeptiert man das, ist es eine Form von positiver Kontrolle zum Nutzen der Gesellschaft: Verhindern von Unfällen, Verletzungen, Todesfällen, indem man die Fahrer zu einem moderaten und maßvollen Verhalten hin lenkt. Mein Vater allerdings liebte die deutschen Autobahnen ohne Geschwindigkeitsbegrenzung … Ineke Hans: Design ist per Definition manipulativ. Es lenkt, wie Menschen Gegenstände nutzen und erleben. Rawsthorn: Nehmen wir etwa Filmvorspanne. Große Designer wie Saul Bass sahen ihre Rolle darin, das Erlebnis des Filmschauens zu verstärken, anzureichern, zu erweitern. Die Zuschauer gleich zu Beginn genau in die Stimmung zu bringen, die sie für ebendiesen Film empfänglich macht. In seinen Arbeiten für Alfred Hitchcocks „Vertigo“ oder „Psycho“ wollte Bass, dass der Zuschauer nervös und verunsichert wird, dass er sich fürchtet. Auch das ist eine, in gewisser Weise wohlwollende Art, Design zu benutzen.
Wie die Ouvertüre zu einer Oper …
Rawsthorn: Genau. Oder wie ein Buchcover.
Ein Buchcover kann aber auch ein Kunstwerk sein. Was ist Design und was ist Kunst?
Rawsthorn: Nun, Design ist Design und Kunst ist Kunst. Design und Kunst sind unglaublich wichtig und nützlich für die Gesellschaft. Beide können auch sehr ähnliche Rollen füllen. Die entscheidende eines Künstlers ist, undurchschaubare, oft beunruhigende Aspekte in unserem Leben zu hinterfragen. Die verborgenen, tiefen, unbewussten, bedrohlichen Phänomene, vor denen wir uns fürchten. Kunst kann natürlich auch ein unfassbar sinnliches Vergnügen sein, voller Schönheit, emotionsstark. Design kann auch all das tun, aber der entscheidende Unterschied ist, dass Design funktional sein muss. Das ist das Ziel, seine Bestimmung, sein Zweck. Funktionalität kann sehr breit interpretiert werden, aber man muss innerhalb einer „Design-Kultur“ operieren, bestimmte Techniken oder Themen behandeln. Da gibt es Prämissen, die sind nicht verhandelbar. Ein Kunstprojekt hingegen kann funktional sein, aber es hat immer die Option, es nicht zu sein. Hans: Ich stimme absolut zu, bei Design geht es immer um Funktionalität, es geht um das Lösen eines Problems. Das tun zu können, macht schließlich ein Design gut oder schlecht. Die Lösung eines Problems kann rein praktisch sein, muss psychologisch-subjektive Bedürfnisse bedienen und muss attraktiv sein. Design wurde angewandte Kunst genannt, aber es ist mehr als nur das Gestalten von reizvollen Objekten oder ein Statement. Es gibt immer eine Verbindung dazu, wie unsere Gesellschaft funktioniert. Das sind viele Details, viele Schichten, in die man hinein tauchen kann und die ins Spiel kommen: ökonomische, technologische, stoffliche, ästhetische … Sagt der Designer, er ist Künstler, hat er seine Aufgabe nicht verstanden. Das Interessante heute ist, dass wir uns davon entfernen, „Star-Designer“ sein zu wollen. In meiner Lehre sehe ich, dass die jüngere Generation viel offener für Kooperationen ist, und ich denke, dass das für die Lösung der komplexen Probleme unserer heutigen Gesellschaft auch notwendig ist.
Ihr „Instant desk“ ist so ein Beispiel. Ein mobiler Arbeitstisch für den flexiblen Arbeitsplatz des digitalen Nomaden …
Hans: Der „Instant desk“ ist ein schmaler Klapptisch aus Standard-Sperrholz, der für Opendesk entwickelt wurde – eine OpenSource-Plattform für Möbel in London. Sie arbeitet mit über 500 lokalen Werkstätten weltweit. Die Werkstätten können den Konstruktionsplan herunterladen und den Tisch lokal produzieren, in genau der Menge, die benötigt wird. Also genau das produzieren, was man will, wie viel man davon will und wo man will. Das ist viel nachhaltiger als Möbel durch die ganze Welt zu verschiffen. Die Idee ist, Produktion im digitalen Zeitalter und in einer sich verändernden, flexibleren Arbeitswelt neu zu denken.
Wie politisch ist Design?
Rawsthorn: Ich glaube, die Gesellschaft ist politischer geworden und die Designer reflektieren das. Ich bin in den 1970er und 1980er Jahren in England aufgewachsen, in einer sehr radikalen gewalttätigen Zeit in Opposition zu Margaret Thatchers Regierung, Sexismus, Rassismus. Auch die visuelle Ikonografie war damals stark und kühn: schwarz, viel schwarz und Doc Martens. Heute trage ich ein Blumenkleid. Das wäre mir damals nicht passiert, viel zu zahm, konservativ … Schauen wir uns die politische Ikonografie der jüngsten Zeit an, sehen wir zum Beispiel wie clever das Symbol von Extinction Rebellion ist: das X steht für extinction, ist gleichzeitig eine Sanduhr und zwei Dreiecke. Es ist ein Symbol für eine globale, dezentralisierte Bewegung, nicht unähnlich den TED-Konferenzen, aus einem anderen Kontext – ein Brand-Name, der für eine öffentliche Debatte steht. Es ist ein Ausdruck für die Dringlichkeit der ökologischen Krise und ermutigt gleichzeitig zu kollektivem Handeln. Nützliche Anwendungen für noch unverständliche Technologien zu finden war eine der traditionellen Aufgaben von Design. Die Herausforderung heute ist, solche für die neue Welle des technologischen Fortschritts auszumachen, um zu verhindern, dass er großen Schaden anrichtet. Wie das aussehen kann, zeigt sich am Beispiel der aktuellen Paranoia um die Künstliche Intelligenz und an den katastrophalen Folgen von schlecht designten KI-Systemen. Design ist sicher kein Allheilmittel für die neuen Probleme unserer Zeit, von dysfunktionaler Gesundheitsversorgung bis Plastikmüll, aber es kann uns helfen, Lösungen dafür zu finden – intelligent, verantwortungsbewusst und konstruktiv.
Eine freundliche Museumsdame löst sich aus dem Schatten und reißt uns sanft aus dem konzentrierten Gespräch heraus: „Es tut uns sehr leid“, sagt sie, „aber wir sind schrecklich deutsch und schließen das Museum in fünf Minuten …“ Auch sie – ein Handlungsagent …
Alice Rawsthorn ist Designkritikerin für die New York Times, Autorin und Officer of the Order of the British Empire. Ineke Hans ist Professorin für Design & Social Context am Institut für Produkt- und Prozessgestaltung. Das Gespräch führten Marina Dafova (Übersetzung + Bearbeitung) und Claudia Assmann.