Der Dirigent als Gestalter
Harry Curtis begann seine musikalische Laufbahn als Chorknabe in der St. George‘s Chapel, Windsor. Dirigieren studierte er u. a. bei Sir Colin Davis an der Royal Academy of Music in London. Über Orchester, Kompositionen und Entwurf sprach er mit dem Musikkritiker Hartmut Regitz.
Die Komposition ist das vollendete Kunstwerk. So die gängige Ansicht. Aber das Paradoxe daran ist: Wenn sie zu einem Klangerlebnis werden soll, an dem auch andere teilhaben können, hat sie wieder etwas von einem Entwurf, der erst umgesetzt werden muss.
Ich sehe das ebenso. Aber es kommt natürlich auf die Blickrichtung an. Händel wird die Partitur „Soli Deo Gloria“ als ein eigenständiges, vollendetes Werk verstanden haben. Ein dirigierender Komponist, eine dirigierende Komponistin wird hingegen eher dazu tendieren, das eigene Werk als Entwurf zu betrachten als jemand, der ausschließlich komponiert.
Hat denn der Komponist beim Komponieren tatsächlich ein ganz bestimmtes Klangbild im Ohr, sozusagen eine Idealvorstellung seiner Musik?
Zu der Zeit von Bach, Haydn oder Mozart gab es einen Konsens darüber, wie eine Musik zu klingen hatte, eine ganz bestimmte Praxis, sozusagen einen Stil, der sich allerdings von Land zu Land unterscheiden konnte. Insofern deckte sich ein Entwurf mit dem Ergebnis. Anders zu einer Zeit wie der von Gustav Mahler. Er war Komponist und zugleich der dirigierende Interpret seiner Werke, als der er oft sehr viel in den Proben nachbereitet hat, obwohl seine Partituren bereits extrem ausgearbeitet waren. Bei seiner 6. Sinfonie hat er die inneren Sätze so oft ausgetauscht, dass wir heute nicht mehr mit absoluter Sicherheit wissen, ob das Scherzo zuerst kommt und dann das Andante moderato oder umgekehrt.
Er war Komponist. Als Dirigent seiner eigenen Werke war er sozusagen legitimiert, etwas zu ändern; vielleicht befand sich seine Sechste seinerzeit noch im Zustand eines work in progress. Einem anderen Dirigenten würde man vermutlich solche Eigenmächtigkeiten ankreiden.
Vielleicht. Aber Mahler war Dirigent genug zu wissen, dass er auf die räumlichen Gegebenheiten auf irgendeine Weise reagieren musste. Eine Aufführung in New York war anders dimensioniert als vielleicht eine in einer kleineren Stadt Deutschlands, wo man nicht über so große Säle verfügte. Zur Aufgabe eines Dirigenten gehört es, dass ein Werk gut klingt.
„Hören“ Sie eigentlich die Musik, wenn Sie einen ersten Blick auf die Noten werfen?
Wenn es sich um eine übersichtliche Partitur handelt, etwa um eine Sinfonie von Mozart oder Haydn: Ja, da genügt manchmal ein Blick, um die Melodie und die Harmonien zu hören. Aber um die Feinheiten einer Musik, ihre Details, ihre Besonderheiten zu erfassen, und um die geht es, muss man tiefer lesen. Je mehr man sich der Gegenwart nähert, desto schwieriger wird das Einlesen. Der Abstand zum Notenmaterial ist größer als bei einem Pianisten, für den eine Klaviersonate von Beethoven weniger ein Entwurf ist als für einen Dirigenten. Für den gibt es viele Zwischenschritte; er muss ganz pragmatisch zwischen einer Vielzahl von Entwürfen wählen, damit die Kunst am Ende auch wirkt.
Wie kann man sich diese Arbeit vorstellen?
Ich beschäftige mich erst mal mit der Struktur eines Werkes. Handelt es sich beispielsweise um einen Sonatensatz? Wie löst er sich auf? Man geht immer mehr in die Details, singt die Stimmen, versucht herauszufinden, wie das Stück eigentlich klingen sollte. Es gibt bestimmte Parameter zu beachten: Rhythmus, Phrasierung, Balance, Dynamik, Instrumentation, Artikulation. Letztlich aber geht es darum, die Aussage zu erfassen, die einem Werk zugrunde liegt, seine Rhetorik, kurz: seinen philosophischen, höheren Sinn.
Das machen Sie erst mal für sich aus?
Ja, ich lese immer wieder die Partitur und spiele am Klavier so viel, wie ich kann. Ich versuche, alle Töne wahrzunehmen und sie so zu verinnerlichen, dass ich auf Anhieb sagen kann, wie etwas klingen soll.
Sie kommen in die Probe mit einer Klangvorstellung, man könnte auch sagen: mit einem Entwurf, den Sie sich genau überlegt haben. Nun ist ein Konzert am Ende nicht das Werk eines Einzelnen, vielmehr stehen Sie vor einem Kollektiv unterschiedlicher Musikerinnen und Musiker, das seine eigene Dynamik entwickeln kann. Die Instrumente unterscheiden sich, die Räume, das Publikum. Es gibt viele Unwägbarkeiten.
Als Dirigent fühlt man sich manchmal wie ein Butler: Man empfängt die Gäste, öffnet ihnen die Tür, lädt sie ein. Das heißt, man packt sie nicht am Kragen und zwingt sie in irgendeine Richtung, sondern weist ihnen den Weg. Nicht anders die Musiker und Musikerinnen. Sie spielen mit eigener Kraft und Energie. Aber man muss ihnen die richtigen Impulse zum richtigen Zeitpunkt geben. Und man muss vor allem eins: sie inspirieren.
Wie laufen denn die Proben ab?
Das kommt darauf an, wie gut man sich kennt. Manchmal genügt es, gleich an die Arbeit zu gehen.
Was meinen Sie damit?
Das, was beim ersten Mal nicht angekommen ist, muss nochmal geprobt werden. Das können technische Fragen sein, im Zusammenspiel, in der Akzentuierung, in der Dynamik. Das erste Durchspielen dient letztlich dem Kennenlernen. Nach den Korrekturen folgen die Wiederholungen, bis man das erreicht hat, was in einem meiner Verträge mal als „a state of concert-readiness“ bezeichnet wurde.
Als Konzertreife. Sie unterrichten angehende Dirigenten. Wie können Sie ihnen das Wissen vermitteln, eine bestimmte Klangvorstellung in die Realität umzusetzen?
Die Studierenden bei uns haben vielfach Gelegenheit, vor einem Orchester praktische Erfahrungen zu sammeln. Mal von der Kenntnis der Partitur abgesehen, die man voraussetzen darf. Bevor es dazu kommt, muss eine Fülle organisatorischer Fragen bewältigt werden.
Ein Beispiel?
Wie soll das Orchester aufgebaut werden? Auch das gehört mit zum Entwurf, den man erst schaffen muss. Gilt die deutsche Aufstellung oder die amerikanische?
Wird denn die Aufstellung nicht in der Partitur festgeschrieben?
Und wenn – der Dirigent muss sich ja nicht daran halten. Von Brahms wissen wir, dass er sich die Geigen immer einander gegenüber vorgestellt hat, das war damals so üblich. Erst Toscanini hat die ersten und zweiten Geigen nebeneinander platziert und damit das Klangbild nachhaltig verändert. Tschaikowski hat im vierten Satz seiner „Pathétique“ die Melodie zwischen den ersten und den zweiten Geigen geteilt: Das hört sich natürlich ganz unterschiedlich an, je nachdem, wie man das Orchester aufstellt. Interessanterweise hat Tschaikowski die Orchesteraufstellung nicht mit einer Fußnote fixiert. Gustav Mahler hätte das getan. Für ihn war die Partitur ein Entwurf, der einer Umsetzung durch das Orchester bedarf. Er hatte eine feine Vorstellung von räumlichen Effekten.
Nehmen wir ein so populäres Werk wie „The unanswered question“ von Charles Ives …
… den Mahler übrigens sehr geschätzt hat. Da ist es von extremer Wichtigkeit, von wo die Trompeten, die vier Flöten, die Streicher erklingen. Eigentlich sollten die Streicher „außerhalb der Bühne“ platziert werden, wie Ives in einem Vorwort anmerkt. Weil sich das schwer bewerkstelligen lässt, wird das selten so gemacht. Man stößt schnell an räumliche Grenzen.
Einen Aspekt haben wir noch nicht angesprochen: das Publikum. Wagner war der Meinung, dass das Kunstwerk im Betrachter immer wieder aufs Neue entstehen müsse. Erst in seiner Wahrnehmung erfüllte es sich. Alles andere wäre lediglich ein Entwurf.
Das ist eine sehr tief gehende, geradezu philosophische Frage. Mein Vater hat mir ein Gedicht von Ronald Knox überliefert, in dem sie auf bildhafte, sehr witzige Weise beantwortet wird:
A young man once said „God,
I find it remarkably odd
that the old apple tree
should continue to be
when no one’s about in the quad.“
Reply:
„Young man, I find your astonishment odd.
I am always about in the quad.
So the old apple tree,
shall continue to be,
as long as observed by yours truly, God.“
Musik in Gottes Ohr. Wie Händel schreiben viele Komponisten ihm zu Ehren: Auch wenn sie sich mal ohne Publikum abspielt, existiert sie doch. Nicht zuletzt wird sie von jenen gehört, die sie hörbar machen. Und doch ist eine Komposition, selbst wenn sie wie bei Benjamin Britten bis auf den letzten Ton ausgetüftelt ist, im Grunde immer nur der Entwurf für eine Aufführung.
Harry Curtis unterrichtet Dirigieren/Orchesterleitung am Institut für künstlerische Ausbildung, am Institut für Kirchenmusik und an der International Conducting Academy der UdK Berlin. Hartmut Regitz ist Musikkritiker und Autor und zählt zu den wichtigsten Tanzjournalisten in Europa.