Nichtstun ist keine Alternative

Sie sind tapfer. Suchen mit großem Einfallsreichtum nach Möglichkeiten, den Unterricht auch online inspirierend zu gestalten. Schwanken zwischen Lust und Frust. Wie es Lehrenden und Studierenden  der UdK Berlin in der Krise ergeht. Ein Erfahrungsbericht 

von Mathias Noack

Auf der einen Seite Virologen, Politiker und große Teile der Bevölkerung, die zur Bekämpfung der Pandemie radi-kale Kontaktbeschränkungen for-dern, durchsetzen, akzeptieren. Auf der anderen Seite diejenigen, die froh sind über jede Sonder-genehmigung des Senats für die künstlerische Ausbildung, über jeden irgend möglichen Gestal-tungsspielraum. Unsere Ausbildung lebt von der unmittelbaren Begegnung, von Kontakt, von Be-rührung. Wie schafft man es, in den ausgerufenen Online-Semestern, den Studierenden Angebote zu machen, damit Monate, ganze Semester nicht zu einer verlorenen Zeit werden? Wie geht das: den singenden, tanzenden Schauspieler online auszu-bilden? Wie schaffe ich es, die Kernprämissen mei-nes Unterrichts – «Spielen heißt Reagieren» und «Alles geht vom Partner aus, alles zielt auf den Partner» – nicht zu verlieren? Es ist nur einge-schränkt, nur mit Verlusten möglich. Aber natür-lich ist Nichtstun keine Alternative. Wie gesagt: Reagieren. 
Ich habe in den ersten Wochen der Universi-täts-Schließung erst mal gemacht, was meines Wissens alle Schauspieldozenten überall gemacht haben: Online-Monologe. Und ich kenne nun die Badewannen und WG-Zimmer unserer Studieren-den, die Heizungskeller und Garagen ihrer Eltern, die sie sich als Bühnen für ihre Figuren gesucht haben, ausgesprochen gut. Das war oft herrlich kreativ, erstaunlich lustig und überraschend in-tensiv. Bald aber hatte sich das erschöpft, und man stellte fest, dass Probenräume eine gute Alterna-tive zur häuslichen Umgebung sind. Dass Partner, mit denen man zusammen etwas verhandelt, viel-leicht nicht gänzlich alternativlos, aber doch zu-mindest sehr wünschenswert sind. Aber es gab auch andere Erkenntnisse. Hatte ich mich früher oft darüber gewundert, dass Menschen bei Auf-nahmeprüfungen ihre Rollen in Socken vorspie-len, wusste ich nun endlich, warum: In Muttis gu-ter Stube gilt Schuhverbot! 
Für die Kollegen der anderen Fächer war es an-ders schwierig. Die Ausbildung zum Musicaldar-steller hat drei gleichberechtigte Säulen: Spielen, Singen und Tanzen. Nur stellen Online-Stunden unsere Gesangslehrer vor ein großes Problem. Der Gesang, die Resonanzfrequenzen der Stimme, komprimiert durch das Internet, all das ist im Grunde nicht zu beurteilen, weil der Sound nur in einer abgespeckten Version übertragen wird. Und Tanztraining? Na ja: Küchenstühle als Ersatz für Ballettstangen – noch schwieriger. Ganz neue Pro-bleme. Wie ist beispielweise die Studentin versi-chert, die in der Online Jazz Class bei der Aufgabe, den Kopf schwingen zu lassen, mit eben diesem an die Betonwand ihres schmalen Zimmers knallt?

Quelle: MATHIAS NOACK

Aber ja, unbedingt: Angebote machen, Alter-nativen suchen. Unterrichten! Es gab ab Juni wie-der die Möglichkeit zu eingeschränktem «Prä-senzunterricht». Einer der vielen Begriffe, die ich vorher gar nicht kannte. Andere: «Masken-pflicht», «Berührungsverbot», sechs Meter Ab-standsgebot zwischen den Spielern. Das, was we-nige Monate vorher vermutlich noch zu wüten-den Protesten geführt hätte, geschweige denn durchsetzbar, ja, nicht mal denkbar gewesen wäre, war nun Gesetz. Ständige Verhandlungen mit der Betriebsärztin, deren Arbeitsalltag sich auch dramatisch verändert hatte. Sie versuchte zu ermöglichen, nur führten ständig neue Ver-ordnungen zu ständig neuen Regeln. Galt am Freitag noch, was am Montag angesagt war? Na ja – Schwamm drüber, das haben ja alle, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens erlebt.  
Nicht nur wir mussten uns neu orientieren. Die ganze Fakultät Darstellende Kunst hatte den Zollstock in der Hand. Wie viele Quadratmeter ha-ben unsere Räume, wie viele Menschen dürfen da-her in ihnen arbeiten? Nachrechnen, hochrechnen, runterrechnen. Darf man den Platz für den Flügel rausrechnen oder dazu addieren, damit wir noch einen Studenten zusätzlich in die Weite des leeren Raums quetschen können? Paradoxe. Ständig. Auch aussichtslose, blödsinnige, hilflos renitente Fragen: Warum müssen die Studierenden, die zu-sammen in einer WG wohnen, gemeinsam mit der U-Bahn zur Uni fahren, vielleicht gerade eine Nacht miteinander verbracht haben, wenn sie die Probebühne betreten, plötzlich diese irrsinnigen Abstände einhalten? Warum sollen wir es tun, wenn es für andere nicht gilt? Alle unsere Proben- und Ballettsäle sind zu klein. Kein einziger groß genug für einen kompletten Jahrgang unter dem Covid-19-Schwert. Also Klassen teilen, kleinere Gruppen, aber auch weniger Zeit, denn erstens konnten wir die Zahl der Lehrkräfte nicht verdop-peln, und zweitens ist spätestens nach einer Stun-de eine Runde Corona-Bekämpfungs-Stoßlüften angesagt. Aber all das ist besser als nichts. Selbst ein regelkonformes Leben – noch so ein Paradox, zumindest wenn man der Ansicht ist, dass Schau-spiel, dass Theater wenig mit konformem Verhal-ten zu tun hat – ist besser als gar keins. Zumal, wenn draußen der Tod droht ... 
Und was haben nun die Monate des einge-schränkten Präsenz- und Onlineunterrichts ge-bracht? Die Frage stellt sich umso mehr, weil ja wieder sehr akut die völlige Schließung der Uni befürchtet werden muss. Ich habe nachgefragt, bei denen, die es betrifft. Drei Fragen an unsere Stu-dierenden. Und ein paar exemplarische Antwor-ten.  

Quelle: MATHIAS NOACK

Was war spannend?

 
Isabella: «Zu sehen, was es für Möglichkeiten gibt, trotzdem irgendwie Unterricht zu geben oder wahrzunehmen. Ein paar Sachen haben über die digitale Form ja wirklich ganz gut funktioniert und enorm viel Zeit eingespart. Spannend, dass ein Dozent den Unterricht einfach nicht online machen kann, weil er mit VHS-Kassetten unter-richtet und sich nicht auf andere Formate umstel-len kann!» 
Fabio: «Zu sehen, wie alle trotz dieser kompli-zierten Lage motiviert und optimistisch an einem Strang gezogen haben, um das Bestmögliche aus der Situation zu machen. Somit glaube ich, dass dieses Corona uns zwar in den ‹normalen Lehr-vorgängen› behindert hat, aber wir keinen Nach-teil zu den Nicht-Corona-Absolventen haben. Dann hat sich halt noch niemand im ersten Se-mester im Schauspiel geküsst, so tragisch ist das nun auch wieder nicht. Außerdem wurden andere Dinge geschult, die nicht besser oder schlechter sind. Selbest Üben! Sich dabei filmen. Wie gehe ich also mit einer Kamera um, wie viele Takes mache ich, bis ich zufrieden bin? Spielen und Tanzen auf Distanz. Lernen, genau zu beobachten. Und die viel größere Wertschätzung, dass man gerade tun kann, was man tut. Diese Dankbarkeit ist span-nend und schön.» 
Mirjam: «Spielen vor der Kamera (auch ein-schüchternd). Alles auf Pause, eingefroren, nur man selbst kann sich bewegen. Andere vor der Ka-mera zu sehen (ganz andere Menschen). Zu sehen, wie die anderen sich entwickeln, ohne dabei zu sein. Wie der Zusam-menhalt am Anfang des Lock-downs war. Andere Lebensrea-lität, ganz plötzlich.»  
Joel: «Zu sehen, wie ent-spannt manche Lehrer sein können, wenn sie nicht mehr live vor einer Klasse stehen müssen. Diese Entspannung überträgt sich sofort auf die Studierenden, und das Klima war teilweise wie ausgewechselt – im positiven Sinne.» 
Maria: «Spannend war, wie ich mein Selbst-studium gestaltet habe bzw. gestalte. Man hat viel mehr Freiheiten, ich kann mir meine eigenen Schwerpunkte setzen, das üben, wozu ich gerade motiviert bin. Mit der Mischung aus dem univer-sitären Studium und Selbststudium habe ich das Gefühl, die höchste Produktivitätsstufe erreichen zu können. Ich bin ausgeglichen, motiviert und freue mich auf jeden Input, der kommt.» 
Adam: «Ich fand es spannend, wie jeder per-sönlich mit dieser Situation umgegangen ist und auch jetzt noch umgeht. Wie manche große Angst hatten und einen auch mal ‹schief› angeschaut ha-ben, wenn man zum Beispiel trotz der geltenden Corona-Regeln irgendwelche Aktivitäten ausge-übt hat – Aktivitäten, die mal völlig normal waren, etwa Freunde zu treffen; und jetzt bin ich ein Ge-setzesbrecher, das ist schon eigenartig!» 

Was war produktiv?


Isabella: «Ich konnte mich durch die aufgenom-men Videos für Schauspiel und Gesang viel besser reflektieren und somit verbessern. Sonst sehe ich mich in meinen Stunden ja nicht selbst und lerne ausschließlich durch die Erfahrung und das Feed-back anderer. Ich habe mit unserem Klavierlehrer ein neues Recording-Programm kennengelernt und mich ausprobiert, das war cool, und die Zeit war dafür da.» 
Fabio: «Wie gesagt, fand ich jeden Unterricht auch auf eingeschränkte Weise produktiv. Ich glaube nicht, dass in zehn Jahren jemand im Pu-blikum sitzt, während der Vorstellung aufsteht und, mit dem Finger auf einen Darsteller zeigend, rufen wird: ‹Das ist einer von denen, die in Coro-na-Zeiten die Ausbildung gemacht haben.›» 
Anna: «Ich habe mehr Vertrauen bekommen, mit der Kamera zu arbeiten, gerade in Bezug auf E-Castings war es hilfreich herauszufinden, wie man sich zum Beispiel am besten ins richtige Licht setzt. Außerdem sah man sich selbst perfor-men und hat so einen anderen Blickwinkel be-kommen, wie groß und übertrieben durch die Ka-mera wirkt etc.» 

Joel: «Durch die Beschränkung der Unter-richtszeit und der Inhalte hatte ich plötzlich Zeit, das Gelernte zu verdauen. Normalerweise wird man von 9:45 bis 22:00 Uhr mit Informationen zugeballert. Wenn man Abgaben oder Präsentations-termine nicht einhalten konnte, ist man meistens auf Unverständnis und Frustration seitens der Lehrer gestoßen. Im Online-Semester habe ich wahrscheinlich so viel gelernt wie nie zuvor.» Mirjam: «Weniger Fahrtwege = länger geschla-fen = produktiver in der Arbeit. Zu sehen, wer oder was einem wichtig ist. Wem ich wichtig bin. Sich bewusster Zeit zu nehmen, Achtsamkeit. Mehr Na-tur, Welt und Politik. Selbstständiger zu arbeiten.» 
Adam: «Ich persönlich hatte so viel mehr Zeit  für Sachen, für die ich sonst wenig Zeit hatte. Mit ‹viel› meine ich sehr viel. Ich habe jeden Tag gesun-gen, konnte üben, Texte recherchieren und verar-beiten, Rollen besser verstehen, und das alles vor Mitternacht! Produktiv war auch dies: Da unser Jahrgang geteilt wurde, waren wir auch im Tanz-training nur die Hälfte. Das ist schon mal ein Rie-senplus an gewonnener Aufmerksamkeit vom Trainer, und da sich ab und zu manche weigerten, wegen Corona zum Training zu kommen, standen wir manchmal zu dritt im Tanzsaal oder sogar nur ich alleine, was mich sehr nach vorne gebracht hat!»

Was war einfach nur grauenhaft?


Anna: «Vieles. Zum einen fehlte mir die Energie, die in Räumen und zwischen Menschen entsteht, enorm! Die Körpersprache macht normalerweise, glaube ich, 90 Prozent der Kommunikation aus, und diese auf ein kleines Fenster zu beschränken, war sehr schwierig. Ich hatte das Gefühl, dass ich selbst so kaputt und schlapp werde, weil ich nichts außer PC-Bilder zurückbekommen habe und dass dassehr energiezehrend ist. Ich finde es generell schwierig, Dinge, die mir Spaß machen und am Her-zen liegen, nur ‹halb› machen zu können, da steigt schnell die Frustration. Mir fehlte außerdem das, was zwischen den Unterrichten normalerweise passiert, mal einfach mit dem Jahrgang zu quat-schen, einen Kaffee zusammen zu trinken, abzu-hängen.» 
Paul: «Grauenhaft war es, jeden Tag alleine in meinem Zimmer zu stehen und beim Üben zu be-ten, dass keiner der klopfenden Nachbarn die Po-lizei ruft, weil man zu laut ist. Das improvisierte Tanzstudio in der Ein-Zimmer-Wohnung. Ballett mit einem Stuhl als Stange zu üben, war ebenfalls furchtbar.» 
Maria: «In den Wochen mit überwiegendem Onlineunterricht vermisste ich oft diese Momen-te, die einen Künstler immer wieder sagen lassen:  ‹Genau deshalb mache ich das.› Das Funkeln des Herzens bleibt aus. Es ist so schwierig, allein in seinem Zimmerchen Spaß und Freude für das zu haben, was man gerade tut.» 
Adam: «Manche Regeln, die einfach nicht nachvollziehbar sind! Zuzusehen, wie Mitstuden-ten psychisch unter den Einschränkungen leiden, vor allem, weil man nicht gut helfen kann. Die Frage in meinem Kopf: Diese Zeit stellt mich auf eine Probe, halte ich stand? Die Lust, manche Sa-chen zu machen, schwindet, und ich muss mich zwingen sie durchzuziehen! So weit kann es doch nicht gekommen sein?! Ich liebe doch Kunst.» 
Mirjam: «Das Abbrechen der Internetverbin-dung. Keine Freunde sehen zu können. Angst um die Eltern. Einsamkeit, Depressionen, Frust. Große Unsicherheit, was die Zukunft angeht. Sich nicht richtig ausdrücken zu können, eingeschränkt zu sein in der Kunst. Zu sehen, wie wenig Kunst und Kultur vom Staat unterstützt wird. Das Gefühl, et-was verpasst zu haben. Verlust von Nähe, Angst vor anderen Menschen = man fühlt sich, als könn-te man nicht richtig atmen, wie eingesperrt unter einer großen Decke.» 
Fabio: «Dass ständig darüber geredet und da-ran erinnert wird. Es ist schwierig, sich an seinem Alltag zu erfreuen, wenn man dauerhaft daran er-innert wird, wie ‹schrecklich› doch alles ist. Ich möchte nicht leugnen, dass es eine ernst zu neh-mende Erkrankung ist, aber das Glas wird doch von nahezu allen eher als halb leer statt als halb voll gesehen.» 
Isabella: «Ich bin traurig, dass ich nicht die Studienerfahrung mache, die ich mir vorgestellt und gewünscht hatte. Die Zeit kommt nicht wie-der, und ich will sie auch nicht vergeuden, aber so eine halbe Geschichte macht einfach keinen Spaß mehr. Wäre Covid-19 doch nur in meiner Schulzeit gekommen!»

Der Autor ist Professor für Darstellendes Spiel an der Universität der Künste in Berlin