Beobachtung als epistemische und literarische Praxis - die Literatur von Joseph Roth

Dr. Birgit R. Erdle
Beobachtung als epistemische und literarische Praxis - die Literatur von Joseph Roth

Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS, 6 Plätze
Mittwochs, 16-18 Uhr, wöchentlich ab 22.10.2025, TU Berlin, Hauptgebäude, Straße des 17. Juni 135, Raum H 3013

Anmeldung bis 22.10. unter: birgiterdle_ @aol.com

Als „unklares anfängliches Schauen“ hat der Wissenschaftsforscher Ludwik Fleck das Beobachten definiert. In seiner 1935 veröffentlichten, über Jahrzehnte vergessenen und erst seit den 1980er Jahren rezipierten Studie zur Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache erklärt Ludwik Fleck die Anfangsmomente des Beobachtens im Kontext empirischer Forschung als „unklares Sehen“, das mit Staunen einhergehe, mit einem Suchen nach Ähnlichkeiten, einem Probieren und Zurückziehen. Einem „Gefühlschaos“ gleiche es, einer Mischung von Hoffnung und Enttäuschung. Wie positionieren sich gegenüber dieser Beschreibung die Praxis und Reflexion des Beobachtens in der Literatur? Wie verhält sich das literarische Beobachten zur Annahme einer unmittelbaren Sprache des Materials, zum ‚reinen Sehen‘ eines sachlichen Auges, zu einem Sich-Erheben über die Gegenstände? Anhand der in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen kleinen Prosa, Erzählungen und Romane des wie Ludwik Fleck gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Galizien (heute West-Ukraine) geborenen Schriftstellers Joseph Roth will das Seminar diesen Fragen nachgehen. Wir werden diskutieren, welche literarische Sprache die „Verwandlung des Erzählenden in einen kritisch-zweifelnd Beobachtenden“ (so Roth 1930) hervorbringt, und welche Gegenwarts-Erkenntnis durch sie möglich wird.

Leistungsanforderung für den unbenoteten Leistungsschein: regelmäßige, aktive Teilnahme, Vorbereitung der Seminarsitzungen durch die eigene Lektüre, Präsentation von Thesen und Fragen zum jeweiligen Text im Seminar ("Impulsreferat").

Birgit R. Erdle, Dr.phil., Privatdozentin am Institut für Philosophie-, Literatur-, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU Berlin. Sie war u.a. Kurt David Brühl Gastprofessorin am Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz (2020) und hatte den DAAD Walter Benjamin Chair an der Hebrew University of Jerusalem, Israel inne (2012-2018). Weitere Gastprofessuren an den Universitäten Wien, Frankfurt a.M., Augsburg, Atlanta (USA). Jüngste Buchpublikationen: Intentionally left blank – Raum für Notizen. Materials and Forms of Notation in European Jewish Literature / Aufzeichnungsformen und -materialien in europäisch-jüdischer Literatur (hg. mit Annegret Pelz, 2019); Augenblicksaufzeichnung – Momentaufnahme. Kleinste Zeiteinheit, Denkfigur, mediale Praktiken (hg. mit Annegret Pelz, 2020); Ilse Aichinger Wörterbuch (hg. mit Annegret Pelz), 2021).