Nachruf auf Hans Wolfgang Nickel - Begründer des Studiengangs Theaterpädagogik

Hans Wolfgang Nickel – ein Rückblick

Hans Wolfgang Nickel hat uns verlassen. In der Nacht vom 26. zum 27. Februar starb er, neunzigjährig. Das Spiel, das er so liebte, ging zu Ende – das Spiel seines Lebens. Auch wenn viele der Jüngeren ihn vielleicht nur der Sage nach kennen – ohne ihn gäbe es die Theaterpädagogik, wie sie sich inzwischen entwickelt hat, wohl nicht. Seit Mitte der 60er Jahre war er in führender und inspirierender Weise in diesem Bereich tätig, der an der PH Berlin noch Schulspiel hieß, in den 70ern zur Spiel-, Theater- und Interaktionspädagogik wurde und später den Begriff Interaktionspädagogik abstreifte. Das Spiel blieb für ihn immer zentral – mit dem Theater und dem Leben verbunden.

Zunächst auf das Lehramt ausgerichtet, promovierte Hans Wolfgang Nickel in Wien in Theaterwissenschaft, war kurzzeitig Lehrer, gründete die Berliner Lehrerbühne und wurde 1964 Dozent für Schulspiel an der PH Berlin. Die von ihm initiierte Jubiläums-Tagung 2014 zeichnete den Weg nach, auf dem das Fach über die 50 Jahre hinweg sich entwickelte und im Hochschulwesen etablierte. Auf diesem Weg war er führend durch seine Fähigkeit, Impulse aufzunehmen, Praxisformen zu adaptieren und weiterzuentwickeln und Menschen und Ideen – auch international – zusammenzuführen. Ein wichtiger Ort wechselseitiger Anregung waren die von ihm initiierten Ferienkurse Spiel und Theater, in der Kursleitung oft international besetzt und offen für alle. Und natürlich gilt auch umgekehrt, dass er selbst von diesem internationalen Netzwerk lernte und profitierte.

Im Lauf der Zeit wandelten sich Schwerpunkte und Zielrichtungen seiner Praxis deutlich. Anfangs waren es experimentelle Theaterprozesse, die er mit seiner Studiogruppe realisierte: Aufführungen von Autoren des Absurden wie Ionesco, Scheerbarth oder Konrad Bayer. Er nahm sich klassische Stücke vor, so Montagen aus Schillers DonCarlos oderShakespeares Zähmung der Widerspenstigen – dies fast in einer Vorwegnahme dessen, was heute als postdramatisch gilt. Mit der Etablierung des Schulspiels als grundständiges Studienfach zum Ende der 60er war es die Zielgruppe der Ausbildung – Schüler, nicht zuletzt der Grundschule, die zum Neuansatz führte: zu Interaktions- und Rollenspielen mit sozialen Lernzielen außerhalb des Ästhetischen im engeren Sinn wie Rollenhandeln, Rollendistanz oder -flexibilität. So entstand die Interaktionspädagogik – mit Impulsen  aus den Sozialwissenschaften – etwa Goffmans Wir alle spielen Theater, auch die russische kultur-historische Schule (Leontjew) spielte eine Rolle. Zugleich kamen Anregungen durch amerikanische Theater wie das Living Theater und seine Trainingsformen oder das Bread and Puppet Theater, auch die Berliner Kinder- und Jugendtheater, das Grips oder die Rote Grütze gaben neue Impulse für ein kindbezogenes Theaterspiel, zu Formen des Mitspieltheaters, der Mini-und Monodramen und zur Erweiterung des Fachbegriffs, zur Spiel- Theater- und Interaktionspädagogik.

Ich begegnete Hans Wolfgang Nickel 1964 eher zufällig. Ich trat meine erste Stellung als Lehrer als sein Nachfolger an, denn er verließ diese Schule mit dem Sprung in die PH. Als ich 1966 die Musischen Wochen mit einer Inszenierung von Tardieus Die Sonate und die drei Herren eröffnen durfte, kam er interessiert auf mich zu, und es begann eine Zusammenarbeit im Rahmen seiner Studiogruppe. Und nach meinem Abschied aus der Schule 1970 wurden wir 1973 durch die neu eingerichtete zweite Professur Kollegen an der PH Berlin. Wir erlebten – ich auf den Spuren des brechtschen Lehrstücks –  gemeinsam den Aufstieg des Fachs und 1979 den unerwarteten Rückschlag: die Abschaffung des Fachs durch das neue Lehrerbildungsgesetz – verbunden mit der gleichzeitigen Auflösung der PH und der Integration in die damalige Hochschule, später Universität der Künste Berlin. Zwar gab es dort nun das Institut für Spiel und Theaterpädagogik, es gab aber keine studentischen Neuzugänge mehr, wir standen in Gefahr zum „praktischen Zweig“ im Fachbereich Erziehungs- und Gesellschaftswissenschaften zu werden.

Das Glück im Unglück: von der Hochschulleitung gefördert – auch im Bemühen, einen neuen Studiengang zu entwickeln, inspiriert durch die Kooperation mit dem Schauspiel und den Zustrom aus der Freien Szene in offenen Studienangeboten waren die 80er Jahre eine überaus kreative Zeit. Das Fach wurde promotionsfähig. Kurzzeitig wurde ein Modell-Studiengang für den außerschulischen Bereich genehmigt und 1990 die Neu-Einrichtung eines regulären Studiengangs Spiel- und Theaterpädagogik. Hans Wolfgang Nickel konnte auch diesen Neubeginn kreativ ausgestalten. Das Fach konstituierte sich neu. Die Ferienkurse blühten weiter. Und immer wieder zeigte sich seine Fähigkeit, Menschen im Diskurs zusammenzuführen – so in der Organisation und Gestaltung der Symposien zur Spieltheorie, zur Theatertheorie und nicht zuletzt der Jubiläumstagung 2014, die viele ehemalige und aktuell Lehrende und Studierende der Theaterpädagogik zusammenführte. Sie machte noch einmal deutlich, was das Institut, das Fach und die Theaterpädagogik ihm verdanken.


Hans Martin Ritter