Die Ära Jenny Meyer, 1883-1894

In den 1880er-Jahren war es keineswegs selbstverständlich, dass eine Frau die Leitung einer so wichtigen und großen Kultureinrichtung übernahm, wie es das Stern’sche Konservatorium der Musik darstellte. In einer Privatschule war dies möglich: Nach Julius Sterns Tod 1883 übernahm seine Schwägerin Jenny Meyer das Institut als alleinige Inhaberin.

Der Dirigent Bruno Walter, der das Konservatorium damals als Schüler besuchte, beschreibt Meyer als charismatische Persönlichkeit. Sie sei „die stärkste Individualität des Instituts” gewesen und habe auf ihn einen „bedeutenden Einfluss” ausgeübt. Sie war „eine[r] der wenigen Menschen, die ich eine ‚moralische Autorität’ nennen möchte.” Walter erwähnt ihren „feierlichen, etwas schwermütigen Ernst” und beschreibt in seinen Memoiren ihre Ausstrahlung: „Von ihrer majestätischen Erscheinung […] gingen Würde, Güte und ein mitreißender Impuls der Kraft aus. Es war das erste Mal, dass die Wirklichkeit mich in fast täglichen Verkehr mit einer so ideal gestimmten Persönlichkeit brachte.” Das 19. Jahrhundert scheint mit „großen Männern” angefüllt zu sein, an der Spitze des Stern’schen Konservatoriums stand eine Frau, deren Eigenschaften nicht den Rollenklischees entsprachen.

Jenny Meyer, die eine Karriere als Altistin absolvierte, ehe sie sich der musikpädagogischen Arbeit zuwandte, stützte sich auf die Komponisten Robert Radecke und – seit 1890 – Friedrich Gernsheim als künstlerischen Beirat. Erstmals wurde nun Theorieunterricht auch in englischer Sprache erteilt. Wichtige Aufführungen fanden in den großen Konzertsälen Berlins statt, von der Sing-Akademie bis zum Beethovensaal. Die Opernschule war voll ausgebaut.

Wie die meisten Konservatorien damals, favorisierte das Stern’sche Institut in der Ära Meyer – anders als zurzeit Julius Sterns – eine Ästhetik, die sich der auch in Berlin aufgekommenen Wagner-Begeisterung entgegenstemmte. „In jenen Achtzigerjahren hatte die Opposition noch Lebenskraft und Kampfeswillen”, urteilte wiederum Bruno Walter, der selbst von Wagner – zur Enttäuschung Jenny Meyers – fasziniert war.

Jenny Meyer starb am 20. Juli 1894. Sie liegt – wie Julius Stern – auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben.

Literatur

Bruno Walter: Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken [1947]. Frankfurt/Main 1960.

Ernst Eduard Taubert: Zur Geschichte des Stern’schen Konservatoriums der Musik. Festschrift zum 50-jährigen Bestehen. Berlin 1900.