Boris Blacher

Boris Blacher 1922. Passfoto auf seinem russischen Abiturzeugnis

 Quelle: Autor/-in unbekannt

Vor fünfzig Jahren, 1975, starb Boris Blacher, Direktor der Hochschule für Musik von 1953 bis 1970. Sein Name steht für eine ganze hochschulgeschichtliche Ära; es waren Jahre des Wiederaufbaus im kriegszerstörten Berlin und der Neuorientierung zwischen Tradition und Avantgarde. Blacher war als Komponist international beachtet und ein erfolgreicher, pädagogisch begabter Lehrer. Ihm widmet sich die 10. Folge der hochschulgeschichtlichen Kolumne.

 

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ist in mancher Hinsicht eine Epoche ‚alter Männer‘: Persönlichkeiten, die sich bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 bewährt hatten und die nach den zwölf schrecklichen Jahren des „Dritten Reiches“ an die Zeit zuvor anknüpfen konnten, kamen damals zum Zuge. So der legendäre Oberbürgermeister Ernst Reuter, der Blacher 1953 als Direktor der Hochschule für Musik berief; er war schon während der Weimarer Republik schon ein einflussreicher Stadtrat in Berlin gewesen. Und die benachbarte Hochschule für bildende Künste leitete Karl Hofer, ein Maler, der bereits in den 1920er Jahren ein wichtiger Lehrer gewesen war. Anders Boris Blacher: 1903 geboren, gehört er einem der Jahrgänge an, die in die NS-Zeit sozusagen hineinwuchsen. Doch fällt sein Lebensweg aus dem Rahmen.

 

Wie viele Berliner war Blacher ein Zugewanderter. Der Sohn eines baltischen Bankiers wuchs in China und Sibirien auf, wo die europäische Kunstmusik nur im Kreise weniger Diplomaten, Geschäftsleute, Missionare und Emigranten bekannt war. In der Hafenstadt Tschifu, dem heutigen Yantai, an der Südküste des Gelben Meeres, in der Blacher einen Teil seiner Kindheit verbrachte, empfing er erste musikalische Eindrücke. Das Musikleben von Harbin in der Mandschurei, wo er nach der Russischen Revolution (1917) lebte, profitierte von versprengten Weißen, den Gegnern der Bolschewisten, aus Sibirien. Auch Blachers Eltern hatten Irkutsk verlassen, wo er als Jugendlicher Beleuchter am Theater gewesen war.

 

Als 19jähriger reiste Blacher in Begleitung seiner Mutter in die deutsche Hauptstadt, um an der Technischen Hochschule Architektur zu studieren. Seine Neigungen galten jedoch der Musik. Wie er einen Kompositionslehrer fand, hat er in einer Anekdote mitgeteilt. Die Hochschule für Musik in der Fasanenstraße war bekanntlich nicht weit von der TH entfernt; er sprach den Pförtner an und bat ihn um Auskunft, wer wohl in Frage käme. Die Antwort soll gelautet haben: Da gäbe es Schreker, den Direktor, der aber ein wenig „überkandidelt“ sei; als Alternative böte sich Friedrich E. Koch an. Tatsächlich wurde Blacher dessen Privatschüler. Koch, ein „märkischer Charakterkopf“ (Artur Egidi), war im Berliner Musikleben fest verwurzelt; kompositorisch stand er in der Nachfolge Mendelssohns.

 

Blachers Lebensweg fand in Berlin einen geographischen Haltepunkt: Hier lebte er von 1922 an bis zu seinem Tod. Als junger Mann schlug er sich als Filmmusiker, Kopist von Noten und Komponist von Gebrauchsmusik durch; mit der Neuen Musik der 1920er Jahre war er ebenso vertraut wie mit dem Jazz. Im „Dritten Reich“ setzte sich sein langsamer Aufstieg als Komponist fort. Der große Erfolg der Concertanten Musik, uraufgeführt durch die Berliner Philharmoniker unter Carl Schuricht, legte 1937 einen Grundstein, auf dem Blacher nach 1945 aufbauen konnte. In der NS-Zeit war seine persönliche Situation als sogenannter „Vierteljude“ und Neutöner allerdings prekär. Durch den Umstand, dass er staatenlos war, blieb er freilich vom Kriegsdienst verschont. Bereits in dieser Zeit hatte er privat erste wichtige Schüler, unter ihnen Gottfried von Einem und seinen späteren Librettisten Heinz von Cramer. 1945 heiratete Blacher die Pianistin Gerty Herzog, die nach den Nürnberger Gesetzen als „Halbjüdin“ galt. An der Hochschule für Musik war sie deshalb nicht zugelassen worden und nahm – unter anderem bei Siegfried Borris – Privatunterricht.

 

Nach Kriegsende lehrte Blacher zunächst am Internationalen Musikinstitut in Zehlendorf, das der Schönberg-Schüler Josef Rufer gemeinsam mit Paul Höffer aufbauten. 1948 wechselte Blacher an die Hochschule – im Gefolge Höffers, der für kurze Zeit, bis zu seinem frühen Tod, ihr Direktor war. 1953 übernahm Blacher selbst das Amt des Direktors; er folgte auf Werner Egk, mit dem er auch künstlerisch zusammenarbeitete. An der neu gegründeten West-Berliner Akademie der Künste wurde Blacher 1956 Vizepräsident; von 1968 bis 1971 amtierte er als ihr Präsident.

 

Mit seiner kurz angebundenen, unförmlichen und auch unangepassten Art war Blacher kein Repräsentant ‚alten Stils‘. Als er zum Hochschuldirektor ernannt wurde, gab es auch öffentlichen Widerspruch, zumal er auch mit Musikerinnen und Musikern aus Ost-Berlin zusammenarbeitete, was in den Jahren des Kalten Kriegs viele ablehnten. Seinen moderaten Nonkonformismus konnte er sich aber – dank seines Renommees – leisten.

 

In Berlin war Blacher gerade auch als Komponist für die Bühne präsent. Wenige Hinweise auf sein Schaffen müssen an dieser Stelle genügen: Das Oratorium Der Großinquisitor (nach Dostojewski), das als Parabel der NS-Zeit verstanden werden kann, wurde 1947 an der Deutschen Staatsoper, damals im Admiralspalast, uraufgeführt. In die Zeit seiner Berufung als Hochschuldirektor fallen die skandalträchtige Ballett-Oper Preußisches Märchen (1952) und die Abstrakte Oper Nr. 1 (1953), die auf eine herkömmliche Handlung verzichtete. Mit der Teilung Berlins ergab sich eine enge Verbindung mit der Städtischen Oper, der späteren Deutschen Oper. Dort arbeitete Blacher mehrfach mit der russisch-deutschen Choreographin und Ballettmeisterin Tatjana Gsovsky zusammen. Blacher betätigte sich auch als „Jazz-Komponist“ (Jürgen Hunkemöller) und befasste sich mit elektronischer Klangerzeugung. Die Jüdische Chronik, ein Gemeinschaftswerk mit Paul Dessau, Rudolf Wagner-Régeny und Karl Amadeus Hartmann aus dem Osten sowie Hans Werner Henze aus dem Westen, entstand 1961; wegen des Mauerbaus wurde es aber erst 1966 uraufgeführt.

 

Blacher stand zwischen Tradition und Avantgarde. Während er bei den Darmstädter Ferienkursen bereits 1952 als „bieder“ galt, stießen seine Werke beim breiteren Publikum manchmal aufgrund ihrer Modernität auf Unverständnis. Blachers innovativer Geist war mit Skepsis gepaart. In einem Interview sagte er 1962: „Moderne Musik ist nur für die Komponisten“. Selbst die Musikstudierenden blieben seiner Beobachtung zufolge „konservativ“. Mit Blick auf sein eigenes Oeuvre sind solche Äußerungen nicht frei von Understatement.

 

Seine Stärke als Pädagoge bestand darin, dass er die Studierenden nicht festlegte. Gottfried von Einem urteilte: „Er wollte nie Abhängige, sondern Menschen“, und Aribert Reimann bezeugt, dass die „Unterrichtsstunden“ bei Blacher „zu den schönsten Momenten in [s]einem Leben zähle[t]en“. Blacher legte 1953 eine Einführung in den strengen Satz vor, die im Berliner Traditionsverlag Bote & Bock erschien. Zu seinen Schülern gehören neben den schon Genannten unter anderen Claude Ballif, Francis Burt, George Crumb, Heimo Erbse, Klaus Huber, Maki Ishii, Roland Kayn, Rudolf Kelterborn, Giselher Klebe, Noam Sheriff und Isang Yun.

 

Die Jahre von Blachers Direktorat waren an der Hochschule durch den materiellen und ideellen Aufbau geprägt, der nach den Zerstörungen der NS-Zeit und des Weltkriegs notwendig geworden war. Eine der ersten Maßnahmen Blachers war die Berufung von Ernst Pepping, der bis dahin an der Kirchenmusikschule in Spandau gewirkt hatte. In der Kompositionsabteilung waren darüber hinaus unter anderen Hans Chemin-Petit, Reinhard Schwarz-Schilling, Heinz Tiessen tätig; der Komponist und Organist Joseph Ahrens lehrte als Professor für Kirchenmusik. 1954 wurde der Konzertsaal an der Hardenbergsstraße eröffnet, in dem die Berliner Philharmoniker bis zur Einweihung des Scharoun-Baus (1963) spielten. Dessen Architekt, Paul Baumgarten, entwarf auch Blachers Wohnhaus in Zehlendorf, Kaunstraße 6. Der Bau des Theater- und Probensaals, des heutigen UNI.T, verzögerte sich; er wurde erst 1975 fertiggestellt.

 

Ganz zum Ende von Blachers Amtszeit machte sich studentenbewegter Protest geltend. So scheiterte 1969 der Versuch, mit Friedrich Gulda das Studienfach Jazz zu etablieren. Es kam zu unnötigen Provokationen: Gulda attackierte die „rückständige Umgebung“ der Hochschule, an der er doch gerade tätig werden sollte. Die Ära Boris Blacher ging allmählich zu Ende.

 

Autor: Dr. Dietmar Schenk, ehem. Leiter des Universitätsarchivs