Leo Kestenberg
Leo Kestenberg
Die Leo-Kestenberg-Musikschule im Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg wird am 20. Juli ein Festkonzert im Rathaus Schöneberg veranstalten. Der Anlass ist das siebzigjährige Bestehen des Aharon-Shefi-Konservatoriums in Giv‘atayim bei Tel Aviv. Die Verbindung zu diesem Austauschpartner ist durch den Namensgeber der Musikschule, Leo Kestenberg, vermittelt, der an der Konservatoriumsgründung mitwirkte. In den Jahren der Weimarer Republik wirkte Kestenberg als Musikreferent im preußischen Kultusministerium, und die von ihm angestoßenen Reformen machen ihn zu einer Schlüsselfigur in der Geschichte der Musik-Fakultät der UdK. So widmet sich die hochschulgeschichtliche Kolumne in diesem Monat Leo Kestenberg.
Leo Kestenberg (1882–1962) wurde 1921 zum Professor für Klavier an der Berliner Hochschule für Musik ernannt. Eine ähnliche Position hatte der Schüler Ferruccio Busonis vor dem Ersten Weltkrieg bereits an den beiden großen Berliner Privatkonservatorien inne, am Konservatorium Klindworth-Scharwenka und am Stern’schen Konservatorium der Musik. Da er jedoch seit den Tagen der Revolution vom 9. November 1918 das Musik-Referat im Preußischen Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wahrnahm, trat er seine Lehrtätigkeit nicht an; er wurde freigestellt. Als er 1929 die Ernennung zum Ministerialrat erhielt, legte er das Lehramt nieder.
Anknüpfend an Kestenbergs Programmschrift Musikerziehung und Musikpflege, die ebenfalls 1921 erschien, leitete das preußische Kultusministerium eine Reform auf dem gesamten Gebiet des musikalischen Unterrichts ein. Die Erlasse und Verordnungen zur Schulmusik und zum privaten Musikunterricht, die Kestenberg anregte und deren Entstehen er koordinierte, werden seit der Nachkriegszeit als „Kestenberg-Reform“ bezeichnet. Kestenberg war in seinem Handeln allerdings nicht so souverän, wie diese Bezeichnung vermuten lässt. Andererseits reichten seine Aktivitäten über die Belange der Musikerziehung hinaus. Sie betrafen – in seinen Worten ausgedrückt – die gesamte „Musikpflege“. So wurde er, um ein hervorstechendes Beispiel zu nennen, zum spiritus rector der Kroll-Oper, einer avantgardistischen „Volksoper“ unter der künstlerischen Leitung von Otto Klemperer (1927–1931). Mit Unterstützung des liberalen Staatssekretärs und Ministers Carl-Heinrich Becker gelang es Kestenberg, eine veritable „Musikreform“ auf den Weg zu bringen. In ihr war die Förderung Neuer Musik mit demokratischen Zielen der „Volksbildung“ aufs engste verknüpft.
Für die Berliner Hochschule für Musik – und damit für die Musik-Fakultät der UdK – liegt Kestenbergs Bedeutung weder in seiner Klavierprofessur, die er lediglich nominell bekleidete, noch in der Musikreform als solcher. Ausschlaggebend ist, dass der Hochschule Kestenbergs besonderes Augenmerk galt: Durch sein Wirken wurde sie damals rundum erneuert. Eine personelle Konstellation begünstigte diesen reformerischen Schwerpunkt. Kestenberg stimmte sich mit dem damaligen stellvertretenden Hochschuldirektor Georg Schünemann aufs Engste ab. Zu dem 1920 berufenen Musikwissenschaftler, einem Schüler Hermann Kretzschmars, stellte sich schnell eine enge, freundschaftliche Arbeitsbeziehung her; in zahlreichen, teils sehr persönlichen Briefen Kestenbergs ist sie dokumentiert. Leider sind die Gegenbriefe Schünemanns nicht überliefert, zusammen mit Kestenbergs gesamtem Privatarchiv wurden sie ein Opfer des Bombenkriegs in Berlin.
Einzelheiten des Reformprozesses, den die Hochschule durchlief, kommen in diesem Newsletter immer wieder zur Sprache; es ist ganz unmöglich, in wenigen Zeilen einen Überblick geben zu wollen. Die vorliegende Skizze konzentriert sich deshalb auf Kestenbergs Lebensweg und ein Bild seiner Persönlichkeit, vornehmlich im Kontext der „Weimarer Kultur“.
Leo Kestenberg wurde am 27. November 1882 als Sohn eines jüdischen Kantors geboren. Er wuchs in Liberec, damals Reichenberg/Böhmen, auf, einer Stadt der Habsburger-Monarchie nahe der Grenze zum Deutschen Kaiserreich. Der Vater sympathisierte mit der Sozialdemokratie und beeinflusste seinen Sohn im Sinne seiner Überzeugungen. Zugleich war er ein ausgesprochener Bildungsenthusiast. Für den jungen Leo bildeten, wie er in seinen Erinnerungen Bewegte Zeiten (1961) auf berührende Weise schildert, „Sozialismus“ und „Musik“ – in Übereinstimmung mit der väterlichen Ideenwelt – eine „Einheit“.
Leo studierte in Berlin und Dresden Klavier, unter anderem bei Franz Kullak, José Vianna da Motta und Felix Draeseke. Im Fortgang seiner Ausbildung wurde Ferruccio Busoni sein Lehrer und Mentor. Kurz nach der Jahrhundertwende siedelte er dauerhaft nach Berlin über und engagierte sich in der Arbeiterbildungsbewegung. Er organisierte die Konzerte der Volksbühne, einer der Sozialdemokratie verbundenen Vereinigung zur Selbstorganisation des Theaterbesuchs. Der Verein war so erfolgreich, dass er ein eigenes Theater, die Volksbühne am heutigen Rosa-Luxemburg-Platz, damals Bülowplatz, bauen konnte. Im Dezember 1914 wurde sie eingeweiht.
Kestenberg brachte es als Pianist zu beachtlichem Können, und er war ein erfolgreicher Klavierlehrer. Sein Geschick als Konzertmanager sticht jedoch hervor. Ihm gelang das Kunststück, das wenig vorgebildete Publikum der Volksbühne für Konzerte auf hohem Niveau zu gewinnen. Mitten im Ersten Weltkrieg machte der Kunsthändler Paul Cassirer den Kriegsgegner Kestenberg zum Geschäftsführer seines Buchverlags. In dieser Tätigkeit lernte Kestenberg Künstler, Schriftsteller und Schauspieler wie Ernst Barlach, Tilla Durieux, Oskar Kokoschka und Else Lasker-Schüler kennen, zu denen ein freundschaftlicher Kontakt lebenslang bestehen blieb. Durch die Bekanntschaft mit Gustav Landauer geriet Kestenberg ins Visier der kaiserlichen Polizeiüberwachung, Rosa Luxemburg besuchte er im Gefängnis.
Infolge der Revolution wurde das Deutsche Reich 1918 zu einer Republik, und Kestenberg, seinerzeit Mitglied der weit linksstehenden Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei (USPD), gelangte ins preußische Kultusministerium. In dieser Behörde wurde ihm viel Pragmatismus abverlangt, doch konnte er, wie schon angedeutet, eine äußerst regsame, an Initiativen reiche Wirksamkeit entfalten. Sein Leitwort „Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik“ ist bis heute – zumindest unter Musikpädagoginnen und Musikpädagogen – bekannt.
Mit der tiefen Wirtschaftskrise seit 1929 und dem Aufstieg des Nationalsozialismus geriet die preußische Musikpolitik freilich zunehmend in die Defensive. Infolge des „Preußenschlags“, einer Art von Staatsstreich gegen das noch sozialdemokratisch geführte Preußen, verlor Kestenberg 1932 – gerade einmal fünfzigjährig – sein Amt. Vergeblich hoffte er, dass er sein Lehramt an der Hochschule wiedererlangen könnte. Im April 1933, wenige Wochen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, floh er in die damalige Tschechoslowakei.
In Prag konnte er die vielfältigen Kontakte seiner Berliner Zeit nutzen, um im Auftrag der dortigen Regierung eine international operierende Gesellschaft für Musikerziehung aufzubauen. 1938 ging er gemeinsam mit seiner Frau Grete – gerade noch rechtzeitig vor dem nationalsozialistischen Einmarsch – nach Paris und emigrierte dann nach Palästina, wo er die organisatorische Leitung des Palestine Orchestra übernahm. In seinen letzten Lebensjahren beteiligte sich Kestenberg am Aufbau des Musikerziehungswesens in Israel, erteilte aber auch Klavierunterricht. Im Sommer 1953 kehrte er noch einmal auf einer Reise nach Deutschland zurück und besuchte West-Berlin. Er starb 1962, fast achtzigjährig, in Tel Aviv.
Es entspricht der Bedeutung, die Kestenbergs kulturpolitische Tätigkeit für die Hochschule für Musik besaß, dass die jüngere Kestenberg-Forschung eng mit Aktivitäten der Universität der Künste, der Nachfolgeinstitution, in Verbindung steht. 2005 fand unter der Ägide von Susanne Fontaine, Ulrich Mahlert und des Verfassers in Zusammenarbeit mit der Leo-Kestenberg-Musikschule eine wissenschaftliche Tagung statt. Im Anschluss daran entstand eine Ausgabe der Gesammelten Schriften Kestenbergs, und es gründete sich die Internationale Leo-Kestenberg-Gesellschaft (IKG).
Verfasser: Dr. Dietmar Schenk (ehem. Leiter des Universitätsarchivs)
Dietmar Schenk veröffentlichte 2023 im Verlag edition text + kritik das Buch „Menschenbildung durch Musik. Leo Kestenberg und Weimars Musikreform 1918–1932“.