crescendo aufgefühlt: Interview mit den Künstlerischen Leitern Prof. Markus Groh und Prof. Konstantin Heidrich

Crescendo – das Musikfestival der UdK Berlin steht mit seinem Festivaljahrgang 2022 vor der Tür. Nach zwei pandemiebedingt sehr schwierigen Jahren – 2020 musste crescendo komplett abgesagt werden und 2021 gab es eine rein digitale Version des Festivals ohne Publikum vor Ort – kann in diesem Jahr endlich wieder Publikum im Saal die Konzerte miterleben. Im Vorwort des Festivalprogramms schreiben die beiden Festivalleiter Prof. Markus Groh und Prof Konstantin Heidrich, dass crescendo 2022 die wiedergewonnene Freiheit feiert, in „gefüllten Sälen, in denen Musiker*innen und Hörer*innen gemeinsam die Musik durchleben, auffühlen und Gänsehaut bekommen“ können. Das programmatische Motto des Festivals lautet dementsprechend sehr doppeldeutig und vielsagend „aufgefühlt“. Ein paar Fragen an die Künstlerischen Leiter:

Sie entfalten beide seit vielen Jahren selber eine sehr rege Konzerttätigkeit. Wie wichtig ist Ihnen persönlich dieses gemeinsame Erleben der Musik mit dem Publikum, wenn Sie auf der Bühne ein Konzert spielen? Wie aufwühlend und gefühlvoll ist für Sie Beziehung zu den Menschen im Saal? Bekommen auch Sie in solchen Situationen Gänsehaut?

 

MG: „Musik ist in ihrem Ursprung ein emotionales Ausdrucks- und auch Kommunikationsmittel von Mensch zu Mensch, also der Drang, sich anderen Menschen künstlerisch sozusagen durch die Schallwellen ,geformter Luft‘ direkt mitzuteilen. Der Versuch, während der Pandemie das komplette Leben ins Digitale zu verlegen, war ein Experiment. Im Falle von ,klassischer‘ Musik und Konzerten hat dies zwar einige neue Formate hervorgebracht, dabei letztendlich jedoch klar gezeigt, dass ein Leben im digitalen Raum ein nicht vollständiges Leben ist.
Und ja, natürlich kennen wir Musiker alle diese ,Gänsehautmomente‘, wenn die Zeit stillzustehen scheint. Wir alle, Ausführende und Publikum leben dafür, für diesen direkten Austausch von Gefühlen und Erlebnissen miteinander im selben Raum.“

KH: „Im Konzert ist man besonders wach mit allen Sinnen. Ein Publikum ist für mich als Musiker spürbar. Ohne genau erklären zu können, wie es passiert, merken wir sehr genau, wie empathisch, wie offen und wie wach die Menschen um uns herum sind, wie groß die Teilhabe ist. Diese besonders intensive Nähe zum Werk während des Konzerts, die man von sich selber verlangt und auch vom Publikum erwartet, kann schon dazu führen, dass man selber spontan noch ergriffener ist, als man es bei den Proben erlebt hat. So ging es mir beispielsweise bei einer Aufführung des Tschaikowsky Klaviertrios op. 50 a-Moll, dem Andenken eines großen Künstlers gewidmet. Der Schmerz des Verlusts eines geliebten Menschen war im Konzert so unmittelbar, dass es für mich schwer war, die Noten noch lesen zu können… Das ist auch objektiv in der Komposition vorhanden: Tschaikowsky verlässt zum Schluss hin für eine schier ewig wirkende Zeitspanne nicht die Dominant-Tonart E-Dur, wie als ob er den finalen Abschied (a-Moll) nicht akzeptieren und wahrhaben will.“

An der UdK Berlin klingt tagein tagaus aus allen Räumen sehr viel Musik und es sind eine Vielzahl von Klassenvorspielen zu bestaunen, in denen sich die Studierenden präsentieren. Bei crescendo hingegen sind hochklassig besetzte Kammermusikformationen zu erleben, in denen Professor*innen gemeinsam mit Studierenden und weiteren musikalischen Gästen musizieren. Das ist sicherlich etwas Besonderes für alle Beteiligten. Was bedeutet das für die Studierenden, und was für die Lehrenden?

KH: „Festivalzeit ist Ausnahmezeit für Künstler und Publikum. Wir feiern zusammen die Musik! Das heißt, dass man über sich hinauswächst, sich an Neues wagt und Altbekanntes neu erlebt. Manchmal lernt man durch ein Konzert viel mehr als während 1000 Stunden des Übens und des Unterrichts! Das Konzert selbst ist ein Lehrmeister, egal ob für Studierende oder Professor*innen. Für die Studierenden ist es enorm wichtig und spannend, ihre*n Instrumentallehrer*in in Aktion neben sich zu erleben. Und andersherum lernt man noch einmal mehr über den Schüler, wenn man gemeinsam als Kammermusikpartner agiert.“

MG: „Absolut! Gemeinsames Musizieren verbindet. Bei Studierenden und Lehrenden ist im Unterricht oft eine mehr oder weniger gesunde Distanz zu erleben. Der Lehrende wird dann manchmal nur als reiner ,Dozent‘ erlebt. Für viele Studierende kann es deshalb befreiend wirken, mit Professor*innen gemeinsam musizieren zu können. Und umgekehrt ist es auch für Professor*innen enorm wichtig, die Spannung einer gemeinsamen Live-Aufführung miterleben zu können.“

Die Universität der Künste Berlin ist eine der wenigen künstlerischen Hochschulen Europas, die alle künstlerischen Disziplinen in sich vereint. crescendo bietet einmal im Jahr die Chance, diese große Vielfalt der künstlerischen Ausbildung an Berlins traditionsreichster Musikhochschule zu präsentieren, Jubiläen zu würdigen, neue Professor*innen vorzustellen und sich vielleicht sogar interdisziplinär in andere Fachbereiche vorzuwagen. Was hält crescendo 2022 für das Publikum bereit?

KH: „Mit crescendo haben wir die großartige Gelegenheit, dem Publikum – ob jung oder alt – auf unterschiedlichste Weise das breite Spektrum der exzellenten Arbeit im Bereich Musik an der Universität der Künste Berlin zu zeigen und einen Blick hinter die Kulissen zu ermöglichen: In Willkommenskonzerten stellen sich zwei neuberufene Professoren vor, der Gitarrist Marco Tamayo und der Pianist und Spezialist für Hammerflügel und historische Aufführungspraxis Lucas Blondeel, und der Klarinettist François Benda feiert sein 25-jähriges Jubiläum als Professor an der UdK gleich im Eröffnungskonzert. Zum 200. Geburtstag des Instituts für Kirchenmusik gibt es einen musikalischen Round Table. Mit den Jungstudierenden des Julius-Stern-Instituts ist der musikalische Nachwuchs zu erleben, diesmal gemeinsam mit gleichaltrigen Gästen der Karol Szymanowksi State Music School aus Breslau.“

MG: „Es ist eine tolle Chance, mit diesem Festival einerseits besonders herausragende künstlerische Momente einer größeren Öffentlichkeit präsentieren und sich auch bei der Arbeit über die Schulter schauen zu lassen, wie beispielsweise bei der Masterclass mit Jens Peter Maintz. Gleichzeitig ist es aber auch ,Spielwiese‘ für interdisziplinäre Projekte und eröffnet Möglichkeiten, sich über die Musik hinaus mit aktuellen menschlichen, gesellschaftlichen und politischen Problemen gemeinsam auseinanderzusetzen, wie in unserem Gesprächskonzert. Wir erleben eine unglaubliche musikalische Bandbreite von der Klassik und Romantik über die Neue Musik bis hin zu Pop und Jazz. Hier seien die Konzerte mit der Big Band des JIB und des Studiengangs Musical/Show ebenso genannt, wie die ,Musica Inaudita‘ mit ausschließlich Werken von Komponistinnen oder das Konzert des Ensemble ilinx. Es lohnt sich also, das Programm dieses Jahrgangs einmal genau zu durchstöbern. Es ist wirklich für jeden Geschmack etwas dabei und vieles Neue kann entdeckt und ,aufgefühlt‘ werden!“

Den Schlusspunkt von crescendo 2022 setzt ein wahrliches Mammutprojekt: Gustav Mahlers Dritte Symphonie mit dem Symphonieorchester der UdK Berlin unter der Leitung von Steven Sloane im Großen Saal der Berliner Philharmonie. Hier entfaltet die vielsagende Doppeldeutigkeit des Festivalmottos „aufgefühlt“ für alle Anwesenden und Beteiligten im Saal wohl ihre volle Kraft, nicht wahr?

KH: „Mahler ist in seinem Streben und seiner Künstlerschaft für uns alle wie ein Fixstern, auch wie ein mit Antimaterie ausgestattetes Schwarzes Loch. Seine Musik aufzuführen verlangt sehr viel Energie aber die Katharsis ist für alle umso größer. Mahler selbst kam die Symphonie ,unheimlich‘ vor und so als ob er ,das gar nicht gemacht‘ hätte! Junge Menschen sagen wohl auch einfach mal ,tierisch geil‘ zu dieser Musik und haben damit ebenso Recht.“

MG: „Als Pianist kann ich die Aufwallungen eines aktiven Orchestermitglieds während einer Mahler-Symphonie nur andeutungsweise erahnen, kenne aber natürlich die unglaubliche Energie eines alle gemeinsam tragenden Miteinanders bei Klavierkonzerten oder auch als früheres Chormitglied ziemlich gut. Einmal hinten in den Violinen versteckt aktiv in einer 5. Mahler-Symphonie im Adagietto mitspielend im Streicherklang zu ,baden‘, habe ich bisher nur träumen dürfen (immerhin!), aber stelle mir das in der Realität wirklich einzigartig vor. Auf solch ein einzigartiges Erlebnis für alle Beteiligten auf der Bühne und im Saal freue ich mich im Abschlusskonzert!“

crescendo 2022 findet vom 20. Mai bis 3. Juni und am 19. Juni statt. Das Gespräch führte Stefan Stahnke.