Am eigenen Körper. Körperbasierte Forschung und strukturelle Gewalt. Ein Text von Sandra Noeth.

Diskussionen über die Langzeitfolgen der Pandemie sind im Moment allgegenwärtig. Darüber, wie sie in unseren Köpfen hängt, unsere Körper neu ausrichtet und unser soziales Verhalten beeinflusst. Die vorläufigen Analysen gehen dabei weit auseinander. Zukunftsgewandte Szenarien lesen die globalisierte Erfahrung des Virus als ein Wachrütteln, das in seiner unmissverständlichen Forderung nach einem nachhaltigeren Umgang mit Ressourcen, mit unserer Umwelt und nicht zuletzt mit uns selbst, auch eine Chance birgt. Andere Stimmen rücken das Auseinanderdriften unserer Gesellschaften in den Fokus, an dem eindrücklich wird, dass der Schutz, der Wert und die Anerkennung, die wir Körpern – individuell oder als Kollektiv – zuerkennen, nicht gleich verteilt sind. „Schutz“ bezieht sich dabei auf verschiedene Ebenen: das Verhindern von physischer Gewalt oder von Angriffen auf die symbolisch-metaphorische Integrität von Körpern; die Forderung nach der Berücksichtigung spezifischer und diverser Körperbedürfnisse und Erfahrungen in der Rechtsprechung; die ethische Anerkennung von Körpern.

Was unser Sein in der Welt heute ausmacht ist bestimmt durch die uns verfügbare Möglichkeit zu atmen, so der Anthropologe Shahram Khosravi bei seiner Lecture „Combat breathing“ am Frankfurter Mousonturm im November 2021. Schnell kommen Bilder in den Sinn von Menschen auf der Flucht, die in überfüllten Lastwagen ersticken, von immer neuen Ausbrüchen rassistischer Polizeigewalt gegenüber Schwarzen Menschen oder nicht reversiblen Umweltschäden, die bestehende Prozesse der Kolonialisierung im globalen Süden fortschreiben. Dies sind nur einige Beispiele einer langen Geschichte struktureller Gewalt, die sich in das öffentliche Bewusstsein eingeschrieben und in zivilgesellschaftliche Proteste übersetzt haben. Aber auch am eigenen Körper lässt sich beobachten, dass nicht alle Menschen in gleicher Weise atmen können. Eigentlich ein vitaler und unausweichlicher Vorgang, der oft unbemerkt bleibt, wird im Atmen eine sich verschärfende soziale Dynamik spürbar. Dann, wenn wir uns durch den Alltag bewegen und entscheiden, wie viel Nähe und Distanz wir anderen Körpern gegenüber zulassen, welchen wir nahekommen und welche wir meiden. Dann, wenn Überlegungen zu Gesundheitsschutz uns mitunter den Atem anhalten lassen – wenn wir uns zu schützen meinen im Versuch, andere nicht einzuatmen.

Die Art und Weise, wie wir andere Körper als „gesund“ oder „krank“, „risikohaft“ oder „normal“ lesen und entsprechend Bewegungen und Gesten, körperliche Markierungen von Klasse, Alter, Geschlecht, Ethnizität u. a. interpretieren, ist hier entscheidend. Sie bringt auf unbequeme Weise Vorurteile, Stereotypen, Klischees und Fantasien zutage, die wir mit uns tragen und verkörpern, und hat direkten Einfluss darauf, wie wir die Schutzbedürftigkeit von Körpern einordnen.

Was hier jenseits des Subjektiven deutlich wird ist, dass wir im physischen Akt des Atmens symbolisch und materiell mit anderen Körpern verbunden und zugleich radikal auf uns selbst zurückgeworfen sind. Atmen ist ein ambivalenter Akt, ein Akt der Ermächtigung, ein Insistieren auf Präsenz, eine im Körper verankerte Forderung nach existenzieller, politischer, symbolischer und ethischer Anerkennung. Aber auch ein Vorgang, der oft schwer zu beschreibende Prozesse von Eingrenzung und Ausgrenzung, von struktureller Gewalt, erfahrbar werden lässt.

Was mich hier interessiert ist, wie körperbasierte Prozesse, Praktiken und Entscheidungen, die auf den ersten Blick persönlich und vielleicht auch intim scheinen, mikropolitische Bedeutung erlangen können. Wie also die Beobachtung, die Erfahrung und der Umgang mit dem (eigenen) Atmen in der Pandemie etwas über soziale und politische Konflikte aussagen können: Welche Körper sind uns schützenswert, und auf welcher Grundlage? Für welche Körper setzen wir uns ein, und welche Körper können in eigener Sache mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Forderungen in Erscheinung treten und nicht nur als Stellvertreter eines anonymen, oft stereotypisierten Kollektivs? Wie werden gesellschaftliche Teilhabe, aber auch Verunsicherung und Ausschluss körperlich eingeübt?

Diese Perspektive ist bereits jetzt in verschiedenen Feldern entwickelt, die mit Körpern arbeiten, die gewaltvoll und aufgrund von strukturellen Dynamiken ihrer grundlegenden Fähigkeit beraubt sind, sich selbst zu erhalten. Beispielhaft stehen körperbasierte Ansätze in der Antidiskriminierungsarbeit und Konfliktbewältigung, oder entsprechende Praktiken der Selbstsorge und Heilung. Und auch in Tanz, Performance und Choreografie hat sich diese Auseinandersetzung in den letzten Jahren entlang von Kategorien wie Gender, Ableismus oder Klasse intensiviert, und damit den Körper in verschiedener Hinsicht als einen zentralen Faktor anerkannt: als Projektionsfläche und Symbolträger, als Zeuge und Handelnden, als zentralen Austragungsort von ideellen und ideologischen Konflikten. „There is no nonviolent way to look at somebody“, so die Künstlerin Wu Tsang in ihrer Soloausstellung letzten Winter im Martin-Gropius-Bau in Berlin. Damit wirft sie die Frage auf, wie künstlerische Praxis und Diskurs Verbindungen zu sozialen und aktivistischen Praktiken offenlegen und Aufmerksamkeit und Handlungsfähigkeit für diverse Körper schaffen können.

In diesem Kontext nach dem Potenzial von Kunst zu fragen, heißt anzuerkennen, dass Kunst Teil dieses Prozesses ist, in dem ästhetisch und gesellschaftspolitisch Sichtbarkeit und Wert produziert und verteilt werden. Wie wir Körper wahrnehmen, sie in Bewegungen, Bilder, Worte und Ideen übersetzen und uns ihre Unversehrtheit und Verletzbarkeit vorstellen, ist keine rein ästhetische, sondern eine politische Fragestellung. Sie ist eng damit verbunden, welche Handlungsfähigkeit, welche Lobby ihnen entgegengebracht wird.

Hier zeigt sich, dass Gesetze, kollektive Normsysteme und Rahmenvereinbarungen nicht ausreichen, um den ungleichen Umgang mit Körpern und ihrem Schutz umfassend zu begreifen. Wie im Akt des Atmens, sind wir immer schon anderen Körpern ausgesetzt und mit ihnen verbunden, in der Ungleichheit von Lebensbedingungen und -realitäten, affektiv, physisch und symbolisch. Atmen ist dabei eine alltägliche Praxis, die es uns erlaubt, in der Welt zu sein, aber auch, uns der Welt gegenüber zu öffnen: Responsivität, Improvisation und die Fähigkeit zu trainieren und, so die Politikwissenschaftlerin Emily Beausoleil, zu antworten, wenn wir angesprochen sind – im körperlichen wie im ethischen Sinn.

Atmen ist auch eine der zentralen Praktiken in vielen performativen Künsten und ein Beispiel, wie dort entwickelte körperbasierte Forschung – über disziplinäre Grenzen hinweg – Erfahrung und Wissen über aktuelle gesellschaftspolitische Fragestellungen generieren und einen Prozess unterstützen kann, bei dem es um Aufmerksamkeit geht. Darum, andere und uns selbst wahrzunehmen, ohne sie zugleich in uns bekannte Narrative und Rahmen zu quetschen, bis wir sie wiedererkennen. Das bedeutet, sich immer wieder neu auszurichten, uns einander auszusetzen, aus dem Gleichgewicht zu bringen und an einer praktischen Ethik zu arbeiten, die nicht zuerst regelbasiert ist, sondern unsere eigene körperliche Position in der Welt zum Ausgangspunkt nimmt.

Kunst, und insbesondere performative körperbezogene Ausdrucksformen, kann die hier angesprochene strukturelle Ungleichheit nicht direkt auflösen. Aber sie kann einen Lernprozess anstoßen und erfahrbar machen, wie unsere Wahrnehmung von Körpern und somit auch die Entscheidung über ihren Schutz mit performativen, sinnlichen und ästhetischen Mitteln gemacht sind. Ihr Potenzial und das Potenzial körperbasierter Forschung liegen dabei darin, normative Zuschreibungen von Körpern, denen Schutz zukommt, und anderen, denen er verweigert wird, herauszufordern, und im Atmen sich selbst und den anderen verbunden zu bleiben.

Sandra Noeth ist Professorin am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz Berlin und arbeitet international als Kuratorin und Dramaturgin. Die Veranstaltungen zu ihrem Forschungsprojekt „Die Unversehrtheit des Körpers“ finden sich auf Seite 32 im aktuellen journal. Bei den SODA Lecture Series „Breathe“ (November 2020) sprach Hope Ginsburg über „Meditations on amphibiousness“ und zeigte ihre Videoinstallation „Swirling“ zu Unterwasser-Korallenaufzucht.