Komponieren als Spiel

Wir treffen Elena Mendoza an einem der ersten Sonnentage des Jahres, draußen in einem Café am Prenzlauer Berg. Die spanische Komponistin, vielfach preisgekrönt, ist bekannt für ihre vielschichtigen Kompositionen und Musiktheaterproduktionen. Ihre Werke gehören zu den beeindruckendsten Arbeiten Neuer Musik in den letzten Jahren. Sie ist interessiert am Experimentieren, an den Zwischenräumen zwischen Musik und Literatur, Kunst und Alltag, an neuen Verbindungen und Entdeckungen. Illusionen, Irritationen der Realität faszinieren sie und sind ein großes Thema in ihrer Arbeit.

 

Elena Mendoza: Ich kultiviere Illusion in meiner Arbeit. Ich bin zwar Komponistin, schreibe aber „unreine“ Musik, weil ich immer in Verbindung bin mit anderen Künsten und Künstlern, aber auch mit Themen aus dem Alltag oder aus der Philosophie. Ich bin immer im Gespräch mit meiner Umwelt. Wie ich Kunst verstehe oder wie ich auch Komposition verstehe ist, eine andere Welt zu kreieren, in gewisser Weise eine illusorische Welt. Und durch diese Welt und ihre eigenen Gesetze kann man die sogenannte Realität etwas besser verstehen. Künstlerisches Arbeiten ist Erkenntnis oder Erkundung der Wirklichkeit durch eine Illusion. Das Thema Illusion zieht sich auch durch meine Stücke. In meiner Komposition „Breviario de espejismos“ („Brevier der Trugbilder“ für Solo Guitarre, 2005) geht es um Wahrnehmungstäuschung. Darin gibt es Klangmaterialien, die sich dauernd „verkleiden“, immer anders dargestellt werden. Eine rhythmische Abfolge kommt zum Beispiel irgendwann in einem klangfarblich vollkommen anderen Gewand daher. Oder es gibt bestimmte prägnante Rhythmen, mal perkussiv, mal mit Glissando als sehr flüssige Wellen. Der Klang ist anders, aber es sind dieselben rhythmischen Strukturen. So entsteht ein Spiel mit Variationen, mit Täuschungen. Das zieht sich durch meine gesamte Arbeit, auch visuell im Musiktheater. Den Begriff der Illusion würde ich daher erweitern in Richtung Sinnestäuschung.

Täuschung und Variation sind dann in der Komposition einander sehr nah.

Wenn man von Täuschung spielerisch „gereizt“ und fasziniert ist, kann man sie auf ganz verschiedenen Ebenen umsetzen. Ein Beispiel: Mein Stück „Fremdkörper / Variationen“ (für Violoncello, Klavier, Performer und Schlagzeug, 2015) ist für drei Instrumente angelegt. Sie sind präpariert mit verschiedenen Objekten, Alltagsgegenstanden. In einem bestimmten Moment werden die Objekte von einem der Spieler eingesammelt und zu einem Tisch gebracht. Und dann beginnt der Performer, die Objekte stumm zu bespielen, die Instrumentalisten agieren synchron. Er „schlägt“ auf ein Glas, aber es erklingt ein unerwarteter Ton. Lauscht er in eine Flasche hinein, hört man einen hohen Celloton. Man erzeugt also eine Illusion und alle diese ganz profanen Objekte – ein Glas, eine Haarspange, ein Schwamm usw. entblättern eine magische Welt.

Das ist ein sehr spielerischer Zugang …

Ich begreife Komponieren als Spiel, das ist ein großes Thema für mich. Im Spiel liegt ein großes Potenzial. Der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar auf den ich mich oft beziehe, hat diesen stark spielerischen, experimentellen Zugang. In seinem berühmten Roman „Rayuela“ (1963), den ich sehr liebe, gibt es ein Kapitel über einen alten Mann, der seine Tage damit verbringt, auf der Straße in Neapel zu sitzen und eine Schraube zu betrachten. Die Leute halten ihn für verrückt. Cortázar spekuliert darüber, was diese Schraube für den Mann vielleicht gewesen sein mag. Durch seine Fantasie macht er aus diesem profanen Gegenstand alles Mögliche.

Eine sehr philosophische Situation …

Genau. Aber es ist eine Philosophie, die aus dem unmittelbar Alltäglichen herausgeht. Aus etwas sehr Normalem, sehr Kleinem, und durch eine solche Illusion kann ich eine neue Welt erkunden. Das ist für mich ein wichtiges Thema, gerade in der Pandemie. Weil wir so viel eingesperrt waren. Man muss mit dem auskommen, was einem zur Verfügung steht.

Haben Sie anders gearbeitet in den letzten zwei Jahren?

Ich arbeite viel über Alltagsgegenstände, schon vor der Pandemie habe ich das gemacht. Gerade bin ich an einem Orchesterstück, in dem die Musiker neben ihrem Instrument auch einen Alltagsgegenstand bespielen. Wegen der Pandemie konnte ich nicht mit Instrumentalist*nnen experimentieren, und so habe ich es zu Hause allein gemacht, mit Salatschüsseln, Flaschen, Dosen. Mit Wasser kann man wunderbare Sachen machen, mit der Bewegung entstehen kleine Glissandi. Die Gegenstände werden auf eine andere Ebene gehoben, sie verlassen das Profane, werden szenisch und gewinnen durch die Instrumentation im Orchester noch eine andere, sublime Qualität. Da müssen die Orchestermusiker über die Grenzen des Gewohnten gehen.

Und wie ist das für die Studierenden, was für Grenzen überwindensie in der Arbeit?

Sie stehen vor denselben Herausforderungen, nur noch viel akuter, weil sie ja noch am Ausprobieren sind. Sie sind oft noch unsicher. Ich habe bei so etwas keine Angst, aber die Studierenden stellen sich aufgrund der fehlenden Erfahrungen oft selbst infrage, da ist es viel existenzieller. Ich nehme an, das ist in anderen Künsten auch so. Es erfordert ja immer einen Mut zum Risiko, wenn man etwas Frisches kreieren will. Und die Institutionen gehen nicht immer mit. In der Musik ist das ziemlich extrem. Sie ist vielleicht die Schwerfälligste aller Künste in dieser Hinsicht. Musikalische Institutionen sind schon etwas museal. Auch an Opernhäusern ist es schwer, neue Produktionswege zu wagen, um andere Ergebnisse zu erzielen, wo Musik und Bühne mehr ineinandergreifen. Wo man wegkommt von diesem Additionsprozess Libretto – Komposition – Inszenierung.

Wie fangen Sie an? Mit einer Idee, die Ihnen durch den Kopf geht?

Mein Vater ist Architekt. Er hat mir mal erzählt, dass er damit beginnt, die Idee zu umkreisen und sich dadurch langsam und intuitiv dem Kern immer mehr nähert. Wie eine Spirale. Dieses Bild hat mir gefallen. Für mich gibt es am Anfang Ideen, von denen ich noch nicht weiß, wie ich sie realisiere. Und ich suche dann die Technik, je nachdem, was zu welcher Idee passt. Nach vielen Jahren kompositorischer Praxis habe ich ein großes Repertoire an technischen Schubladen, die ich aufmachen kann. Es ist also nicht so, dass ich das alles jedes Mal neu erfinde.

Das ist die Erfahrung.

In den Stücken hat man ja viele Verfahren ausprobiert und viele Ideen formalisiert und daraus kann man schöpfen. Am Anfang ist man vielleicht risikofreudiger, weil man tatsächlich nicht weiß, was dabei herauskommt. Aber durch die Erfahrung entsteht eine gewisse Freiheit im Umgang mit den Mitteln. Man kann mehr spielen und hat ein Gefühl dafür, wie das Resultat sein konnte. Will ich das, oder will ich das infrage stellen? Für mich gibt es zwei sehr wichtige Dinge, die ich miteinander verbinden mochte: die Interaktion mit der Welt, mit der Literatur und – den Klang, die Vorstellung vom Klang.

Gibt es eine Partitur, eine Notation?

Im Fall eines Orchesterstucks hat das Orchester tatsächlich eine fest komponierte Partitur. Aber im Musiktheater, und auch zunehmend in der Kammermusik, gibt es viele Momente, die nicht notiert sind, sondern mit den Interpreten zu Ende komponiert werden. Bei szenischen Situationen fallen mir am Schreibtisch längst nicht so gute Ideen ein wie bei einer Probe. Gerade wenn die Musiker kreativ sind und Spaß an so etwas haben. Aber es braucht den ordnenden, kompositorischen Moment. Ich arbeite sehr eng mit Matthias Rebstock zusammen. Er ist Musiktheater-Regisseur und achtet bei den Proben auf ganz andere Dinge als ich. Manchmal gewinnt Musik die syntaktische Oberhand, und dann ist die Partitur fixiert, und manchmal gibt es Interaktionsmomente, bei denen theatrale Elemente das Timing vorgeben, oder wichtige idiomatische Elemente liefern. Die meisten Experimente, die ich für Kammermusik mache, kommen aus dem Musiktheater.

Verändert sich ein Stück im Laufe seines Lebens? Entwickelt es sich weiter, oder sind Ihre Werke fertig, wenn sie zur Uraufführung kommen?

Das ist unterschiedlich. „Fremdkörper / Variationen“ ist inzwischen von verschiedenen Ensembles gespielt worden, und jedes Mal war es ein wenig anders. Ich aber bestehe immer darauf, bei der Einstudierung entweder selbst dabei zu sein, oder dass das Ensemble sich einen Regisseur oder einen Komponisten holt, der die Sache ordnet. Ich genieße das sehr, es entstehen immer wieder neue Ideen.

Noch einmal zu Ihren Studierenden. Wie arbeiten Sie mit ihnen?

Alles basiert auf ihrer eigenen Arbeit und darauf, was sie suchen. Das ist ein langer Prozess. Meine Aufgabe ist es, ihnen das Handwerk zu vermitteln für das, was sie machen wollen. Und das muss überhaupt nicht das sein, was ich will und mag. Oder aber sie wissen gar nicht so genau, wohin sie wollen, sie müssen sich erst einmal ausprobieren, und es kristallisiert sich erst spät heraus, wohin die Reise geht. Es ist wichtig, dass die Studierenden etwas suchen, das ihnen gehört. Ich möchte keine Klone erzeugen, keine Epigonen. Das klingt banal, ist aber nicht so einfach. Weil man unbewusst natürlich die Leute beeinflusst. Ich zeige zum Beispiel nie meine Musik oder Beispiele meiner Arbeiten im Unterricht. Das ist tabu. Trotzdem, die Leute kennen meine Sachen, schauen sich die Partituren an, das kann ich nicht unterbinden, will ich ja auch nicht.

Wird Ihre eigene Arbeit im Gegenzug beeinflusst?

Manchmal werde ich überrascht. Es gibt Sachen, die ich bei den Studierenden zwar unterstütze, bei denen ich aber skeptisch bin, ob sie funktionieren. Manchmal beweisen sie mir, dass es geht. Das finde ich ganz toll. So wird man gezwungen, Dinge zu hinterfragen, die man im Laufe der Jahre so praktiziert hat. Und dann kommt ein Student oder eine Studentin und sagt: „Daran glaube ich nicht.“ Und dann spricht man darüber. Die Diskussionen oder die Kolloquiums-Situationen, in denen die Studierenden ihre Stücke in der Gruppe präsentieren, sind sehr wichtig. Und sie sind intensiver als im Einzelunterricht. Lehrer sind in kreativen Fächern immer ungenügend. Es gibt so etwas wie einen harten Kern, den kann man nicht unterrichten. Das Gefühl für Timing, für Dramaturgie, für Zeitgestaltung. Es kann sich verbessern, es kann sich auch verändern, sich entwickeln. Aber der Kern, der muss da sein.

Der kreative Prozess bleibt immer ein Rätsel …

Noch etwas kann man nicht unterrichten: die Notwendigkeit zu komponieren oder überhaupt künstlerisch zu arbeiten. Um ein künstlerisches Leben zu führen, muss man genau diese Notwendigkeit spüren – ein echtes, existenzielles Bedürfnis.

 

Elena Mendoza ist Professorin für Komposition. Gemeinsam mit der Komponistin Leah Muir gründete sie 2016 das Ensemble ilinx für Werke des 20. und 21. Jahrhundert am Studio für Neue Musik der UdK Berlin.

www.elenamendoza.net

Das Gespräch führten Claudia Assmann und Marina Dafova.