Stephan Porombka: (Fast) alles muss raus!

Quelle: Stephan Porombka

[Fast] Alles muss raus!

Stephan Porombka

Hinweis. [Wenn mein Text über Reduktion noch gekürzt werden muss, dann bitte auf jeden Fall nur die komplett gestrichenen Notate abdrucken.] Die im folgenden mitgeteilten Notate also unbedingt streichen.
[Sonst kommt man durcheinander.] Der Rest kann bleiben. [Bitte melden, wenn es zu spät ist.] 

Motto. „Gesetzt ich begriffe ganz und gar, [warum ich diesen mißratenen Satz schuf] dieser Satz mir mißrieth, dürfte ich ihn darum / nicht durchstreichen?“(Friedrich Nietzsche, „Notizheft N“ VII 2, 1885-86)

Kill your darlings. Autor*innen, die unkontrolliert schreiben und deren Texte wachsen und wuchern und ihre Formate sprengen, lehrt man, sich zuallererst die eigenen Lieblingsstellen vorzunehmen. [Gelehrt wird: Solcherlei Wucherungen kürzt man erst dann richtig herunter, wenn man dahin geht, wo es weh tut.] Wann immer man also beim Lesen des selbst geschriebenen Textes denkt: „Dieses Kapitel muss auf jeden Fall bleiben“, [„Diese Stelle hier gehört unbedingt dazu“, „Auf diesen Satz, Absatz, Abschnitt, auf diese Szene oder Figur kann ich keinesfalls verzichten“] …, dann ist man schon dort, wo etwas gestrichen werden sollte. 

They will kill you. Sag niemals: „Das kürze ich nicht! Nur über meine Leiche!“ [Redakteur*innen können sehr humorlos sein.] Alte Redensart: Du wirst schneller unter deinem Text begraben, als Du ihn schreiben kannst.

Rette sich, wer kann. Wer es nicht übers Herz bringt, seine Lieblinge zu töten, schneide sie vorsichtig aus dem Text heraus und rette sie hinüber in ein anderes Dokument, in einen anderen Ordner auf einer anderen Festplatte, wo niemand sie jemals findet. Sichere die Datei mit einem Passwort, an das Du Dich keinesfalls erinnern wirst. Dann schließ die Datei, dreh Dich um und geh weg. [Bitte diesen Teil und alle nachfolgenden komplett streichen.] 

Rette sich wer kann IV. Eine andere Möglichkeit, seine Lieblingsstellen zu retten: Man druckt sie aus und nimmt sie auf einen [Abend]Spaziergang mit, um sie auf einer Parkbank oder in der U-Bahn auszusetzen. [in der Hoffnung, sie] Wenn sie stark genug sind, werden sie [im großen Text der Stadt] ihren Weg im großen Text der Stadt schon finden.

Ersetzen durch „K.“ „ich“, „ich“, „ich“, „ich“, „ich“[, „ich“]. (Fünf Streichungen von Franz Kafka aus dem Anfang von „Das Schloß“)

Stille Post. Ich sammle täglich die überflüssigsten Worte, die ich beim Lesen aufschnappe, in einer Streichholzschachtel. Ich klebe sie später auf kleine Zettel. Die falte ich zusammen und lege sie Leuten im Kaufhaus heimlich [auf der Rolltreppe] in die Einkaufstüten. Sollten sie mir irgendwann wieder zufliegen, füge ich sie in meine eigenen Texte ein, um sie dann später wieder zu streichen. [(Das stimmt zwar so nicht, aber ich brauche zusätzliche Zeichen, damit der Text hier die versprochene Länge hat.)]

To do. [Ich muss meine Mutter anrufen. Allerdings spricht sie dann wieder stundenlang. Ich langweile mich. Sie sagt, das sei kein Wunder, ich hätte früher schon Probleme gehabt, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Dann legt sie auf.] Erledigt.

Mehr ist weniger. [In einem Clip aus der Sesamstraße, den ich als Kind sehr mochte, legen sich Ernie und Bert schlafen. Aber] Der Wasserhahn tropft. Bert ist genervt. [Ernie sagt, er regelt das. Dann macht er den Staubsauger an, damit der Wasserhahn nicht mehr zu hören ist. Dann lässt er das Radio ohrenbetäubend laut spielen, um den Staubsauger zu übertönen. Bert verzweifelt.] Ernie schläft ein.

Déjà lu. Ich entdecke in anderen Texten immer wieder Stellen, die von mir aus eigenen Texten herausgekürzt sein könnten und die ich dann womöglich bei abendlichen Spaziergängen hier und da ausgesetzt habe. [Diese Passage hier zum Beispiel. Die ist eigentlich von mir. Aber dann schrieb sie ein Kollege exakt so in einer Abhandlung über Plagiate. Er zitierte mich aber nicht. Ich schreibe sie jetzt hier auf, als wären es meine eigenen Worte. Ich werde den Kollegen jetzt natürlich auch nicht zitieren. Oder ich zitiere ihn einfach falsch.]

Fast nichts. Wie das [Sein], so müsste auch das Nichts geschrieben und d. h. gedacht werden.“ (Martin Heidegger, „Zur Seinsfrage“)

Déjà lu XI. Ich treffe immer wieder auf Figuren aus einem von mir geschriebenen Roman, den ich [im Alter von achtundzwanzig] vor Jahren im Berliner Tiergarten liegen ließ, und der sich da draußen offensichtlich unkontrolliert mit gestrichenen Textpassagen anderer Autoren und Autorinnen verknüpft und weiterschreibt. Ich komme selbst in diesem wuchernden Berlin-Roman vor, nachdem ich offensichtlich aus einem anderen Text herausgekürzt und ebenfalls ausgesetzt worden bin. [Und zwar als Professor für Texttheorie.] Und zwar als Hase. [(Ja, als Hase, das stimmt wirklich, ich schwöre!, ich kann ja nichts dafür, aber wenn es so klingt, als hätte ich nicht alle Texte im Schrank, kann es gestrichen werden.)]

John Cage. In dem Roman, der da draußen vor sich hinwuchert, kommt auch ein skurriler Komponist vor. Er nimmt sich vor, ein Stück zu schreiben, in dem vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden nichts zu hören ist. Alles, was darin vorkommen könnte, wird [rausgestrichen] gar nicht erst aufgeschrieben. Anschließend komponiert er ein Stück, das er so weit zusammenstreicht, dass es 0,00 Sekunden dauert.

As slow as possible. Derselbe Komponist schreibt dann in einer anderen Wucherung des wilden Romans ein Stück, dessen Aufführung sechshundertneununddreißig Jahre braucht. Dabei wird nur alle paar Jahre ein Ton gespielt wird. [Dazwischen: die Leere, die von Moment zu Moment mit der ganzen Welt gefüllt wird.]

Dr. Murkes gesammeltes Schweigen. [Meine Mutter erinnert mich am Telefon daran, dass in meinem Roman eine Erzählung von Böll vorkam, in der] Es gibt ein sehr langes Tonband, das aus lauter sehr kurzen Tonbandstückchen zusammengeschnipselt ist. Zu hören ist auf diesem Tonband nichts. Man hört nur stille Pausen. [Schweigemomente. Luftholsekunden.] Augenblicke des Besinnens. Die sind allesamt bei Aufnahmen von Radiosendungen entstanden. [Und weil sie zwischen den Worten und Sätzen unnötig scheinende Längen ergeben, schneidet man sie raus. Radioredakteur Murke lässt sie sich geben. Er nimmt sie mit.] Er klebt sie neu zusammen. Und wenn er nach Hause kommt und vom Gequatsche der Welt genug hat, legt er dieses Tonband ein und hört dem Schweigen zu.

[Bitte übersetzen.] „La rature a donc une existence double, elle est tout à la fois perte et gain, manque et excès, vide et plein, oubli et memoire. Cette ambivalence de la rature a une valeur générale. […] Elle est prise entre la pure négativité et le rayonnement de l’excès.” (Almuth Gréssillon, „La mise en oeuvre“)

An der Brücke. [Von Böll gibt es eine andere schöne Erzählung, in der jeden Tag Leute gezählt werden, die eine Brücke überqueren. Der Erzähler zählt sie alle. Nur die eine, in die er heimlich verliebt ist, zählt er nicht mit. Und wer gleichzeitig mit ihr die Brücke überquert, wird auch verschwiegen. „Schattenmänner und Schattenfrauen, nichtige Wesen, die im zweiten Futur der Statistik nicht mitmarschieren werden … Es ist klar, dass ich sie liebe.“] So müsste man schreiben: Man müsste immer gleich unterschlagen, was später reduziert werden könnte.

Etwa so.

Und nun das Wetter von morgen. Eines Tages saß Subhuti in einem Zustand tiefster Leere unter einem Baum. Blüten begannen auf ihn herabzufallen. [„Wir preisen dich für deine Abhandlungen über die Leere“, flüsterten die Götter ihm zu. „Aber ich habe nicht über die Leere gesprochen“, sagte Subhuti. „Du hast nicht über die Leere gesprochen, wir haben die Leere nicht gehört“, erwiderten die Götter. „Dies ist die wahre Leere.“] Und Blütendolden rieselten um Subhuti nieder wie Regen.

Stephan Porombka ist Professor für Texttheorie und Textgestaltung. Der Text entstand exklusiv für diese Ausgabe des journals.