Das organisierte Chaos

Wie erleben wir einen Tag, ein Jahr oder hundert Jahre? In unserem Erleben hat Zeit kein absolutes Maß, sondern relativiert sich dadurch, was wir in dieser Zeit erfahren, wahrnehmen und – daran gekoppelt – wie wir die Zeit durch diese Wahrnehmung empfinden. Die erzählte Zeit – das Timing – spielt bei der Gestaltung von Animation eine entscheidende Rolle. Bei der Animation liegt die Darstellung der Zeit in unseren Händen. Wir entscheiden, ob in 1 Minute 1 Jahr oder 100 Jahre erzählt werden. Wir entscheiden, ob die Bilder rasant durchrauschen oder verzerrt erstarren.
Der Inhalt bestimmt das Tempo, den Zeitfluss und die Kontinuität einer Animation: eine sprunghafte Bildergeschichte, 12 fps oder flüssige 25 fps, ja gar 50 fps bilden die Basis der Narrationen. Harte, kontrastreiche, stotternde Schnitte, Kollisionen, die uns in die Realität zurückholen oder sanfte Überblendungen und Perspektivwechsel. Kontinuität, Diskontinuität, Assoziation, Metaphorik und Rhythmus. Die Montage (franz. monter, dt. zusammensetzen) eines (Animations-)Films beschreibt die Verbindung einzelner Einstellungen zu einem erzählenden Medium. Die Montage sequenziert Einstellungen (Einzelbilder, Bewegtbilder), um Raum, Zeit und Informationen zu strukturieren, zu konstruieren und zu verdichten. Dziga Vertov, einer der ersten Dokumentarfilmer, wandte das Prinzip der Montage nicht nur auf den Schnitt an, sondern auch auf Entscheidungen, die während des Filmens getroffen wurden, und auf die alltägliche Wahrnehmungsbeobachtung. Er sprach von der Montage als „der Organisation der gesehenen Welt“ (Kino-Eye: The Writings of Dziga Vertov, ed. A. Michelson, trans. K. O‘Brien, Berkeley, 1984).
Es bietet sich daher an, ein weites und ein enges Verständnis von ‚Montage‘ zu unterscheiden: Durch Fragmentierung (découpage) der Realität in eine Anzahl von Einzelaufnahmen/Zeichnungen erhält man das Ausgangsmaterial von Bildern, die in der Montage neu kombiniert werden.

Mit der Entwicklung der technischen Möglichkeiten des Mediums Film und der Adaption der Rezipient*in an das bewegte Bild entstehen zunehmend neue Methoden, komplex strukturierte Inhalte mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln abzubilden. Flossen zu Beginn der Entwicklung des Mediums alle Bemühungen in die Konstruktion von virtuellem Raum innerhalb des Films, richtet sich das Interesse seit dem Expanded Cinema der 1960er Jahre zunehmend darauf, den filmischen Raum in den physischen Raum zu erweitern und den Film zu einer körperlichen Erfahrung zu machen. Neue technische Möglichkeiten im digitalen Zeitalter ermöglichen die Vorführung von Bewegtbild (Film, Video, Animationsfilm) in fast beliebiger Größe und Umgebung, sodass eine Inszenierung nicht mehr auf einen definierten abgedunkelten Raum, das Kino, den Black Cube, beschränkt bleibt. 

In ihrer expliziten Künstlichkeit ermöglicht die Animation, im Gegensatz zum Film, Raum und Zeit von Grund auf zu definieren und zu manipulieren. Wird die Bühne der Animation in den physischen Raum erweitert, entsteht ein Spannungsbogen zwischen dem physischen und dem virtuellen Raum. Die Erweiterung konstituiert ein kontinuierliches Zusammenspiel zwischen Realität und Fiktion. Mehrere Animationen können zeitgleich projiziert werden. Mehrere Zeitebenen entstehen und „Time becomes spatialized, distribute over the surface of the screen“ (Lew Manovich: The visual culture reader 2, 1995). Die Animation im Raum bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Animationsfilmen und den künstlerischen und technischen Möglichkeiten von Installationen. Der physische Raum ist Teil des künstlerischen Ausdrucks. Er wird zum skulpturalen Rahmen oder Container, der mit der Animation schwingt. Das Ergebnis ist eine neue, sich erweiternde Form: die Animation im Raum, das sich in verschiedenen Formen wie der Video-Installation, Augmented Reality, kinetischer Skulptur, Performance oder ‚Expanded Animation‘ zeigt. Die Rezipient*in taucht in das Werk ein; das Werk umgibt sie; die Rezipient*in interagiert mit dem Werk; die Rezipient*in wird Teil des Werks. Die Animation im Raum setzt Licht, Farbe, Bewegung, Ton und Raum in einen Wahrnehmungszusammenhang. Der Einsatz aller plastischen und psychologischen Mittel macht die Animation im Raum zu einer neuen Sprache. Die Grenzen zwischen Realität und Imagination – wie vom Kino befeuert – verschwinden. Die Animation im Raum kann als Gesamtkunstwerk verstanden werden.

Ein grundlegender Unterschied zwischen Ein-Kanal-Animationen zu räumlichen, mehrkanaligen Animationen ist die Strukturierung der Form. Arbeitet die klassische Montage horizontal und sequenziell, kollidiert die Linearität der Zeitleiste mit der Nonlinearität des Raums.

Bewegtbild + Black Cube = A-Z
Bewegtbild + White Cube = A-Z, B-B, C-C, …
Bewegtbilder + White Cube = 2 x A-Z, B-B, C-C, …; 3 x A-Z, B-B, C-C, …

Die räumliche Montage ist somit eine ‚erweiterte Montage‘, bei der zu der Zweidimensionalität der Projektionsfläche die Dreidimensionalität des Raums addiert wird. Die Handlungen finden nicht nur auf der Projektionsfläche, im medialen Raum statt, sondern setzen sich in dem physischen Raum fort. Die Herausforderung an die Montage ist es nun, sowohl einzelne Fragmente zu einem Ganzen zu verbinden als auch mehrere dieser ‚Ganzen‘ miteinander und mit dem großen Ganzen des Raums. Die räumliche Montage besteht nach innen (Medium) und außen (Medien im Raum) aus vielen Unterkompositionen. Die Rasierklinge schneidet nicht nur innerhalb der filmischen Arbeit, sondern im physischen Raum, der als Footage in die Montage importiert wird. Erst die Bewegung und Wahrnehmung der Rezipient*in verbindet die Fragmente zu einem zusammenhängenden Ganzen. Denn diese entscheidet, wann und wie lange sie welche Inhalte sehen und wie tief sie in die jeweiligen Zeitschnitte einsteigen möchte. Die räumliche Montage fordert die Rezipient*in zum Auswählen und Neukombinieren von Bedeutung auf. Ihre eindeutige Position wird aufgelöst. Relevant für die Expansion der Animation in den Raum ist, dass der Montage als Konstruktionsprozess einer neuen Sequenz immer auch der Schnitt vorgelagert ist, der die aufgenommene Sequenz dekonstruiert. Streng genommen besteht der Prozess also aus spiegelbildlichen Akten des Teilens und Fügens. Die Übertragung der linearen Animation in mehrere im Raum verortet Kanäle hat den gleichen teilenden Effekt, nur dass die Zusammenhänge in der räumlichen Montage nicht eindeutig und deterministisch entstehen, sondern durch die wechselnden Bezüge in der Wahrnehmungen der Betrachter*in stets neu entstehen und vergehen. 

„More than purely a filmic practice, animation needs to be understood as the staging of an agency: the manipulation of intervals, not only between film frames, but also between images and objects in space“ (Edwin Carels, Spaces of Wonder: Animation and Museology. In: Pervasive Animation, ed. Suzanne Buchan, Routledge, 2013). Der außermediale Raum wandelt sich in einen Raum der Reflexion für und Ergänzung durch die Rezipient*in, während ihr Blick wandert. Die Räume zwischen den Bildfragmenten, die Raumfragmente, können mit Inhalten gefüllt werden. Sie erzählen Zeitsprünge oder dienen der Imagination, wie von Bildern, die nicht konkret bebildert werden sollen. Die Rezeption der Animation im Raum ist somit immer ein persönliches und unwiederholbares Erlebnis. Durch den Faktor der Interaktivität und der Konstruktion von Raum nähert sich die Animation im Raum anderen Formen wie dem Game und der Architektur an.

"The Lonesome Tree", Installationsansicht, 2020

Quelle: Martin Url

Inhaltlicher Ausgangspunkt der Installation sind historische Darstellungen und Deskriptionen des ‚Baums des Lebens‘, welcher im Zentrum des Paradieses, dem Baumgarten, stand. Der Baum des Lebens gehört zur Mythologie vieler Völker und ist ein altes Symbol der kosmischen Ordnung. Als Weltachse tief im Boden verwurzelt und zugleich himmelwärts strebend, wird er zum Vermittler zwischen Himmel, Erde und Unterwelt, der Vergangenheit, dem Jetzt und der Zukunft. Der Projekttitel verweist auf das Gemälde Caspar David Friedrichs „Der einsame Baum“ (1822) und nimmt damit Bezug auf die Romantik, um an ein Rückbesinnen an die Natur zu appellieren. Der Baum symbolisiert in der Installation den Kreislauf des Lebens, der heute unterbrochen scheint. Die gezeichneten Fragmente zeugen von der Zerstörung des Paradieses. Die ortsbezogene Arbeit besteht aus vier synchronisierten Projektionen auf transluzenter Gaze, die sich in einer Tiefenstaffelung in den Raum reihen, und Raumsound. Sie zeigen animierte weiße Zeichnungen auf Farbverläufen. Die Projektionen sind so installiert, dass sie sich in der Betrachtung überlagern und durch die Bewegung der Besucher*in immer neue Zeichnungen entstehen. Es handelt sich nicht um eine lineare Erzählung, sondern um eine räumliche Montage von Fragmenten. Der Schnitt findet nicht innerhalb der filmischen Arbeit statt, sondern im Raum selbst. Hier zeigen sich die Möglichkeiten für die Montage als räumlich-zeitliches Gestaltungselement: Während aus der Montage im zweidimensionalen Film ein zwar veränderter, aber in sich wieder geschlossener und linearer Zeitablauf entsteht, bricht die Verräumlichung der Animation die Struktur so weit auf, dass eine Vielzahl von Lesarten der gleichen Sequenzen in Raum und Zeit entstehen, die erst durch die Bewegung und Wahrnehmung der Rezipient*in konkretisiert werden. Die Arbeit verwendet Metaphern der Zeit und überträgt das Thema der Zerstörung, des Todes und der Fragmentierung in die Animationstechnik. Frame-by-Frame manipulieren die Animationen das Vergehen der Zeit, indem sie natürliche Prozesse zeitlich zusammenraffen: 100 Jahre Zer-störung komprimiert in 4 Loops à 45 Sekunden. Gleichzeitig sind die Animationen als Verweis auf die Langsamkeit der Prozesse und das Vergehen des Lebens selbst in Zeitlupe angelegt. In diese an sich konträren Zeitlichkeiten addiert sich die Zeitlichkeit der Betrachter*in, die mal langsam, mal schnell, mal anhaltend wahrnimmt. Das Werk entsteht im Sinne eines organisierten Chaos.

"Virgin Soil", Installation, 2020-22

Quelle: Klaus Weddig

Das menschliche Bewusstsein bewegt sich nicht in einer linearen Narration. Wir beschäftigen uns zeitgleich mit einer Vielzahl von Inhalten und Bildern. Vieles erfassen wir fragmentiert und parallel. Fehlende Informationen werden von uns – oftmals automatisch – ergänzt. Das gelingt uns aufgrund unseres Wissens und unserer Erfahrung im Umgang mit der Vielschichtigkeit des Lebens. Die räumliche Montage von Animation spiegelt dieses komplexe Konstrukt des menschlichen Denkraums wider, indem sie Narration und manipulierte Bildabfolgen zeitgleich, räumlich, fragmentiert und unabhängig voneinander juxtapost. Die Animation im Raum ist nicht eindeutig, sondern mehrdeutig und multiperspektivisch. Sie ist kein fertiges Werk, wenn sie durch die Gestalter*in oder Künstler*in beendet wird. Ihr Wert liegt in der Offenheit und den Möglichkeiten der Interpretation. Die Animation im Raum ist stets ein Opera aperta, ein Vorschlag, eine Einladung zu einem offenen Dialog – zwischen der Animation und der Betrachter*in.

Kathi Kæppel war bis zum Wintersemester 2023/24 Gastprofessorin für Bewegtbild. Zum Sommersemester tritt sie eine Professur für Bewegtbild an der Folkwang Universität der Künste in Essen an. Seit 2018 forscht sie im Rahmen ihres wissenschaftlich-künstlerischen Promotionsvorhabens „Animation in the Expanded Field“.