Zum Jubiläum - 150 Jahre Berliner Musikhochschule

Dietmar Schenk

Die ‚alte‘ Berliner Musikhochschule, 1869 – 1975

 

In der U-Bahn auf dem Weg zur Bundesallee, Station Spichernstraße, kann es einem passieren, dass man aus dem Gespräch von Fahrgästen, die ein Konzert im Joseph-Joachim-Konzertsaal besuchen wollen, einige Wortfetzen mithört. „Ich gehe in die Hochschule für Musik“, sagte neulich jemand. Das ist, genaugenommen, falsch, denn das Konzert, dessen Besuch anstand, fand in der UdK statt. Deren Fakultät Musik nimmt allerdings die Funktion einer Musikhochschule wahr. Ob in dem aufgeschnappten Satz auch eine Reminiszenz an die ‚alte‘ Berliner Musikhochschule, Preußens staatliches Konservatorium, enthalten ist, vermag ich nicht zu sagen.  

Deren Geschichte reicht bis 1869 zurück. Der in Ungarn geborene Geiger Joseph Joachim, ein Schüler Mendelssohns und Freund Brahms‘, dessen internationaler Ruhm heute vergessen ist, wurde damals vom preußischen Staat beauftragt, eine Schule für „ausübende Tonkunst“ aufzubauen; im Zuge der Gründung des Kaiserreiches mit Hilfe der Gewalt preußischer Waffen sollte die Hauptstadt kulturell aufgewertet werden. Aus der kleinen Musikschule, die im ersten Semester Unterricht für wenige angehende Geiger, Cellisten und Pianisten anbot, darunter übrigens Clara Schumanns Tochter Eugenie, entstand schließlich die „Königliche akademische Hochschule für Musik“. Anfangs war sie im Palais Raczynski untergebracht – genau dort, wo heute der Reichstag steht. Nach einer Zwischenstation in der Potsdamer Straße zog die Hochschule 1902 in einen Neubau in Charlottenburg, Fasanenstraße 1, dessen Unterrichtsgebäude die Fakultät Musik der UdK heute noch nutzt. Bis zu Joachims Tod im Jahr 1907 war die Hochschule ein Hort des romantischen Klassizismus.

Mit der Abdankung des Kaisers in der Novemberrevolution wurde das renommierte Konservatorium zur „Staatlichen akademischen Hochschule für Musik“. Der Staat Preußen, der die Hochschule unterhielt, war gewissermaßen ein überdimensioniertes Bundesland innerhalb des Deutschen Reiches; in der Zeit der Weimarer Republik stand er politisch ein wenig links vom Reich. Ein sozialistischer Musikreferent, Leo Kestenberg, setzte mutige Reformen durch und verwandelte die Hochschule zu einer Experimentierstätte für Neue Musik. Direktor war nun der Komponist Franz Schreker, einer der vielen Wiener im Berlin der 1920er Jahre, der im Jahrzehnt zuvor als zeitgenössischer Opernkomponist mit großem Erfolg hervorgetreten war. 1927 wurde Paul Hindemith, der führende Komponist der jungen Generation, berufen.

Mit der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ 1933 fand ein Exodus jüdischer und politisch missliebiger Lehrender statt; es fand ein Aderlass statt, von dem sich die Hochschule nicht wieder erholen sollte. Den Konzertsaal trafen im Zweiten Weltkrieg Bomben; 1954 trat ein Neubau an seine Stelle. Gleich nach Kriegsende wurde der Schulbetrieb wieder aufgenommen; die Hochschule war nun eine städtische beziehungsweise eine Landeseinrichtung im Westteil Berlins. Die „Staatliche Hochschule für Musik und darstellende Kunst“, wie sie zuletzt hieß, ging 1975 in der neu gegründeten Hochschule der Künste Berlin, der heutigen UdK, auf. Der in China geborene Komponist Boris Blacher war bis 1970 ihr langjährige Direktor.

Was ist das Besondere an der ‚alten‘ Berliner Musikhochschule? Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass es überhaupt eine „Hochschule“ war. Denn die geläufige Bezeichnung für musikalische Ausbildungsstätten lautete im 19. Jahrhundert „Konservatorium“, orientiert am Pariser Conservatoire. Die Benennung als „Hochschule“ resultiert in Preußen gewiss aus dem Prestige des leistungsstarken Hochschulwesens, mit der Berliner Universität an der Spitze. Die Musikhochschule war gegründet worden, um ein erstklassiges Symphonie-Orchester in Berlin auf dem Weg der „Erziehung“ zu ermöglichen; jedenfalls nennt Joseph Joachim in der Gründungsphase diese Absicht, und die Soireen des Joachim-Quartetts, die den „Geist der Hochschule“ verkörperten, wirkten gerade in den 1870er Jahren ins Berliner Konzertleben hinein. In der Weimarer Republik war die Hochschule dann der Nukleus für eine ganze Reihe von institutionellen Angliederungen. Unter ihnen befanden sich der Staats- und Domchor, der ehemalige Hofchor der Hohenzollern, und die erste staatliche Schauspielschule, die es in Deutschland gab.  

Eine zweite Besonderheit ist der beträchtliche jüdische Anteil an der Hochschulentwicklung. Es ist eine interessante Facette preußischer Kulturpolitik, dass 1869 mit Joseph Joachim ein getaufter Jude für die Leitung  einer staatlichen „Unterrichtsanstalt“ ausgewählt wurde. Die internationale Bewunderung und Verehrung für den berühmten Virtuosen war zu seinen Lebzeiten beinahe unermesslich. Als weitere Musiker jüdischer Herkunft, die mit der Hochschule aufs Engste verbunden sind, können der Violinist Carl Flesch und der Pianist Artur Schnabel, der Chorleiter und Begründer des Berliner Philharmonischen Chors Siegfried Ochs, sowie Erich Moritz von Hornbostel, Leiter des Phonogramm-Archivs, genannt werden, ferner Curt Sachs, der Leiter der Sammlung älterer Musikinstrumente, des heutigen Musikinstrumenten-Museums, und Leopold Jessner, der die Schauspielschule führte.  

Ein drittes Merkmal, das die Hochschule für Musik auszeichnet, ist die große Zahl der Ausländer unter den Studierenden. Der illustre Personenkreis reicht von der japanischen Violinistin Ando Ko bis zu Wladislaw Szpilman, dem „Pianisten“ in Polanskis bekannten Film. Nimmt man die Privatschüler wichtiger Lehrer hinzu, so gehört beispielweise auch Arthur Rubinstein als Schüler Heinrich Barths dazu. Bei dem ersten Kompositionslehrer, Friedrich Kiel, fand sich ein internationaler Schülerkreis ein, darunter der spätere polnische Ministerpräsident Ignaz Paderewski und der Komponist der norwegischen Nationalhymne, Rikard Nordraak.

Genauso bemerkenswert und, gemessen an gängigen Preußen-Klischees, unerwartet ist die Reform der Hochschule in der Weimarer Republik. 1927 wurde eine Rundfunkversuchsstelle eröffnet, die sich mit den neuen technischen Medien des Grammophons, des Rundfunks und des Tonfilms auseinandersetzte. Das ebenfalls neu eingerichtete Seminar für Musikerziehung war eine innovative, sozialpolitisch engagierte Einrichtung. 1930 wurden mit der „Neuen Musik Berlin“ die Donaueschinger und Baden-Badener Musikfeste an der Berliner Hochschule fortgeführt. Wichtige Komponisten der 1920er Jahre, unter ihnen Kurt Weill, Student bei Engelbert Humperdinck, und Ernst Krenek, Schüler Schrekers, gingen aus der Berliner Hochschule hervor.

Der Tag der Gründung jährt sich in diesem Jahr zum 150. Mal. Die Berliner Musikhochschule war in ihren besten Zeiten eine der bedeutendsten Einrichtungen auf ihrem Gebiet in Europa. Angesichts der Katastrophen des 20. Jahrhunderts weist die Geschichte Brüche auf – die Hochschule existiert in ihrer alten Form nicht mehr. Sie gehört jedoch zum Erinnerungswürdigsten, was die Musikgeschichte Berlins zu bieten hat.

 

 

Dr. Dietmar Schenk arbeitet fächerübergreifend über Archivgeschichte und -theorie und ist Leiter des Archivs der UdK Berlin.