HfBK Aufnahmeprüfung
Modell der Aufnahmeprüfung an der HfBK [UdK], Jürg Sulzer 1966
Erinnerungen an die Aufnahmeprüfung der Hochschule für Bildende Künste Berlin 1965/66
Momente des Glücks
Der Moment zu einem lebenslangen Glück zeichnet sich im Sommer 1965 ab – trotz diverser Unebenheiten. Ich bin damals nur ein einfacher Hochbauzeichner, der weder über ein künstlerisches noch gestalterisches Bildungsniveau verfügt. Trotzdem will ich studieren, möglichst im Bereich Städtebau / Architektur. Ich finde die Hochschule für Bildende Künste in Berlin. Im Sommer 1965 sollte ich in Berlin eine künstlerisch ausgerichtete Arbeitsmappe einreichen, um sodann zur Aufnahmeprüfung zugelassen zu werden. Aufgrund meiner Zweifel habe ich diesen Sprung nach Berlin dann doch nicht gewagt. Ich war mir bewusst, dass ich mit meiner damaligen Vorbildung kaum Chancen habe, zur Aufnahmeprüfung zugelassen zu werden.
Stattdessen besuche ich den „Vorkurs“ an der Kunstgewerbeschule von Zürich. Sie verfügt damals noch über Spuren der Lehre des Schweizer Malers, Kunstpädagogen und Lehrenden am Bauhaus in Weimar, Johannes Itten, der von 1938 bis 1953 als Direktor der Zürcher Kunstgewerbeschule wirkt. Der einjährige Vorkurs bietet mir die Möglichkeit in künstlerischer und gestalterischer Hinsicht einen kleinen Sprung nach vorne zu tun. Ein Jahr später, im Sommer 1966 reiche ich eine künstlerische Mappe an die damalige Hochschule für bildende Künste (HfBK Berlin - heute UdK Berlin) ein. Sie eröffnet mir die Zulassung zur Aufnahmeprüfung. Im Nachhinein stelle ich fest, dass dies der Startschuss ungeahnter Chancen meines beruflichen Werdens war. Ich werde an der HfBK Berlin zur Aufnahmeprüfung zugelassen. Was für eine Herausforderung. Aus meinem provinziellen Heimatort Schaffhausen in der Schweiz soll ich den Sprung in die große Stadt Berlin (West) wagen. Mit viel Zweifel gehe ich in dieses ferne Westberlin. Ich trete in die „Heiligen Hallen“ des Erdgeschosses der HfBK an der Hardenberg Straße 33. Die wunderbare Architektur des 19. Jahrhunderts vermittelt mir den Eindruck eines großartigen Kunsttempels. Hier wird es wohl nicht einfach sein, eine Zulassung zum ersehnten Städtebau- und Architekturstudium zu erlangen.
Es ist Dienstagvormittag im Frühherbst 1966 – fast 60 Jahre sind vergangen. Die Aufnahmeprüfung startet in einem Zeichensaal mit etwa 25 Teilnehmern. Verschiedene Aufgaben zeichnerischer und schriftlicher Art sind zu erfüllen. Und am Mittwoch folgt eine für angehende Architekten zentrale Aufgabe: Wir müssen etwa 50 Streichholzschachteln mitbringen. Aus der Schweiz kommend, kaufe ich im Lebensmittelladen MIGROS die dortigen Streichholzschachteln, verziert mit unterschiedlichen Trachtenmädels aus den verschiedenen Kantonen. Ich finde diese Art von Streichholzschächteli vielfältig bunt und schön.
Zweifel
Mitte der 1960er Jahre wird Städtebau und Architektur hauptsächlich als Klötzchen- und Zeilengliederung verstanden – oft hat sich dies bis heute erhalten, wenn wir unsere Agglomerationen kritisch betrachten. Damals wird die Aufgabe von einem Professor gestellt und lautet, aus den Streichholzschächtelchen ein gestalterisch-architektonisches Ensemble herzustellen. Wie alle Kollegen mache ich mich daran, das zu tun, was links und rechts von mir im Zeichensaal getan wird: Schächtelchen für Schächtelchen nebeneinander zu reihen, mal höher mal flacher aber alles im rechten Winkel. 2 Stunden von insgesamt vier verfügbaren Stunden sind vergangen. Eine Vielzahl von Prüfungskollegen beginnen bereits ihr gestaltetes Ensemble zusammenzukleben. Der gestrenge Professor läuft zwischen den Tischreihen durch und äußert sich da und dort zum werdenden Ergebnis. Innerlich zitternd, sehe ich im Seitenblick, dass der Herr Professor meinen Platz ansteuert. Sein Blick ist wortlos, lange studierend und dann das (vernichtende) Urteil: es sei schon etwas „langweilig“! Für mich bricht (vorzeitig) eine Welt zusammen. Was soll ich tun angesichts der fortgeschrittenen Zeit.
Kurze Pause und Neuanfang. Meine Inspiration leitet mich weg von dem üblichen Zusammenfügen einzelner Klötzchen mit dem Ergebnis einer eher zufällig gestalteten Aneinanderreihung. Die Inspiration bringt mich auf eine skulpturale Struktur, die einfach zu lesen ist. Die Anordnung der Schächtelchen sollte sich wiederholen, ohne monoton zu wirken. Vor- und Rücksprünge, Offenheit und Geschlossenheit fügen sich zu einem Ganzen. Und es scheint zu gelingen, ein plausibles Regulativ ist gefunden, das sich als spannende Skulptur herausstellen könnte. Aber dieses Probieren nimmt Zeit in Anspruch. Es ist etwa 11.30 Uhr und die Mehrheit der Kollegen streichen ihre Arrangements bereits mit weißer Farbe (was damals üblich war bei Architekturmodellen). Ich wollte wie alle anderen Kollegen meine „Skulptur“ ebenfalls weiß malen. Aber die Zeit war abgelaufen und ich muss mein „Kunstwerk“, so wie es nun mal ist, mit den Trachtenmädchen-Bildern abgeben. Für mich ist klar, dass ich damit verloren habe im Vergleich mit den vielen anderen (weiß gestrichenen) Arbeiten.
Aufbruch und Erweckung
Zwei Tage später am Freitag erfolgt ein mündliches Einzelgespräch vor versammelter Professorenschaft und die Bekanntgabe der Zulassung zum ersten Semester. Innerlich unsicher, betrete ich den Konferenzraum im Zwischengeschoss der HfBK. Unter anderem werde ich (1966) mit Fragen zur aufkommenden Atomenergie konfrontiert und über einen Roman von Max Frisch befragt. Schlussendlich ergreift Julius Posener, damals Vorsitzender des Prüfungsgremiums und neu berufener Professor an der HfBK, das Wort. Er stellt fest, dass es schon etwas vermessen sei, dem Prüfungsausschuss eine Skulptur mit Trachtenmädchen zu unterbreiten. Aber er finde, dass dies die mutigste Arbeit sei, die in der damaligen Prüfung vorgelegt wird. Er denke, dass hier Kreativität und Freude hinsichtlich zukünftiger Ideen und Gedanken vorliegen. Das Gremium sähe bei mir gute Voraussetzungen für ein erfolgreiches Studium an der HfBK Berlin. Zu erinnern wäre noch, dass die HfBK damals auch über eine starke Abteilung Bildende Kunst verfügt. Und hier haben sich bestimmt bereits in der Mitte der 1960er Jahre erste Bewegungen in der Kunstrichtung zur sog. Pop-Art abgezeichnet, worüber ich damals kaum Ahnung hatte. Vielleicht gibt es eine gewisse Verwandtschaft mit meiner Trachtenmädchen-Skulptur, was städtebauliche Architektur sein sollte. Meine Skulptur war zumindest ungewöhnlich.
Mit einem befreienden Blick verlasse ich die „Heiligen Hallen“ an der Hardenberg Straße 33. Ich habe einen Schritt gewagt, der mich, während meines langen beruflichen Weges immer wieder aufbrechen ließ, zu neuen Ufern zu gelangen. Die Skulptur ist für mich ein Zeichen geblieben, niemals zu rasten, immer wieder Neues zu wagen, Ungeahntes zu erschließen und Ungeplantes neu zu entdecken. Der Vorkurs an der Zürcher Kunstgewerbeschule hat mich vom linearen Denken befreit und mit der Aufnahmeprüfung an der HfBK entsteht für mich ein Erweckungserlebnis, das mich nun seit 60 Jahren begleitet und mich stets zu neuen Ufern der Erkenntnis leitet.
Jürg Sulzer
Zürich, im September 2025