Fünf Hörstücke im rbb Kulturradio

Rahel Mann überlebte den Naziterror in einem Kellerverschlag in der Starnberger Straße in Schöneberg.

 Quelle: Saskia Reis

Wie erinnern wir uns an Deportation, Verfolgung und Rassismus in der Nazizeit? Dieser Frage stellten sich einige unserer Studierenden im Wintersemester. Sie suchten in Berlin Orte auf, an denen die Shoa begann. Mit Unterstützung der Initiative "Denk mal am Ort" fanden die Studierenden Zeitzeugen und Menschen, die die Verbrechen der Nationalsozialisten gegenwärtig machen. Daraus entstanden fünf Radiostücke, die jetzt in der Woche der Brüderlichkeit im Kulturradio des rbb ausgetrahlt werden.

Montag, 9. März 2020, bis Freitag, 13. März 2020.
Jeweils um 14.10 Uhr.

rbbKultur: 92,4 MHz oder im Livestream

https://www.rbb-online.de/rbbkultur/themen/leben/beitraege/2020/03/woche-der-bruederlichkeit/

Fünf Hörstücke von Serafin Dinges, Ania Kozlowski, Saskia Reis, Nina Schaefer, Jannik Schäfer, Lara Sielmann, Clemens Wildt und Sabina Zöllner.

1. Ein Boxlegende wird zerstört

Rukeli wurde er genannt, er war beliebt bei der großen Boxgemeinde Anfang der dreißiger Jahre in Deutschland. 1933 wurde er Meister im Mittelschwergewicht, aber da waren die Nazis schon an der Macht und nahmen ihm den Titel wieder weg. Trollmann hatte eine Nachteil: Er war Sinti. Und Sintis konnten nach der Rassenideologie der neuen Machthaber keine guten Boxer sein. Auch wenn sein Kampfstil  mit Mohammed Ali zu vergleichen war. Man schikanierte ihn, man drängte ihn aus dem Boxring. 1942 kam er in das Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme, wo er von seinen Aufsehern immer wieder zum Boxkampf herausgefordert wurde. Als er einen Kapo K.O. schlug, brachte ihn dieser aus Wut um. Das war 1944. Heute erinnert eine Gedenktafel in der Bergmannstraße in Kreuzberg an ihn. Und ein Sporthalle ist unweit davon nach ihm benannt. Sie ist die Heimat  der „Boxing girls“, einem Verein, in dem jeder, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, das Boxen erlernen kann. Auch hat er die Funktion eines  Schutzraums für Minderheiten, den Johann Rukeli Trollmann nicht hatte. 
Von Ania Koslowski

2. Zu Besuch in der Gervinusstraße
Ein gutbürgerliches Haus im Berliner Westen. Hier wohnten jüdische und nicht-jüdische Deutsche Tür an Tür, bis die Nazis an die Macht kamen. Durch das Haus führt Hans-Peter Messerschmidt, der Enkel des jüdischen Architekten Kurt Messerschmidt, der dieses Haus erbaut hatte. Einer der heutigen Mieter ist Mathias Schirmer. Ihn hat die Geschichte dieses Hauses nicht losgelassen. Er ist  Hausarchivar und stößt immer wieder auf neue Schicksale: Das Mädchen, das unter ihm wohnte und durch einen Kindertransport 1939 nach London vor der Ermordung gerettet wurde. SS- Angehörige, die in Wohnungen jüdischer Mieter einzogen, nachdem man sie zwangsumgesiedelt hatte. Aber wie der Enkel sagt, dieses Haus hat noch eine andere Geschichte, sie erzählt von dem Gemeinschaftsgefühl der Bewohner bis zum heutigen Tage und ist damit ein Stück lebendige Erinnerungskultur. 
Von Lara Sielmann und Clemens Wildt

3. Eine Stolpersteingeschichte
Immer wieder werden neue Stolpersteine in Berlin verlegt.  Zum Beispiel vor einem Haus in der Wilhelmshöherstraße 24. Sie erinnern an das Schicksal der Familie Fermbach, die alle Opfer der Deportationen in Nazi-Deutschland waren. Günther Demnig hat sie verlegt, wie 75.000 andere in den letzten 25 Jahren in ganz Europa. Auch die Inhaberin eines Buchladens im Bayrischen Viertel hütet einen Stolperstein wie ihren Augapfel. Er erinnert an den Gründer dieser  Buchhandlung Benedict Lachmann, Anarchist und jüdischer Autor, dem die Nazis das Geschäft wegnahmen und  ihn später in das Ghetto Litzmannstadt verschleppten, wo er umkam.  Daran will Christiane Fritsch-Weith täglich erinnern, die seit 45 Jahren die  Geschäfte am Bayrischen Platz führt.
Von Serafin Dinges

4. Wer war Malwine?
Auch Heidrun Albert war das am Anfang nicht ganz klar. Als ihr Mann plötzlich starb, brauchte sie  ein neues Betätigungsfeld.  Sie erinnerte sich an ein Gespräch mit Gerda, deren Schwester die Schwiegertochter von Malwine war und allmählich tauchte sie in das Leben der ihr fremden Frau ein. Malwine Milinowski, eine Frau aus gutbürgerlichem Haus, die über Nacht nach Theresienstadt deportiert wurde, und  9 Monate später  dort an Entkräftung, am „Lagerschock“ starb, wie man die Umstände, die zu ihrem Tod führten, heute nennt. Heidrun Albert will Einzelschicksale wie diese wieder öffentlich machen. Deshalb hat sie mit Habseligkeiten von Malwine, die ihr anvertraut wurden, eine Ausstellung  organisiert, deshalb ist sie nach Theresienstadt gefahren, um wenigstens  Wasser aus der Eger mitzubringen, in den man die Asche der Ermordeten warf.  Jetzt liegt der Behälter mit dem Wasser neben der Urne ihrer Eltern auf dem Südwestfriedhof in Berlin-Stahnsdorf. Damit Malwine endlich Ruhe findet, sagt Heidrun Albert.
Von Jannik Schäfer und Sabina Zollner

5. Nachdenken über das Judentum
Rahel Mann empfindet sich fast schon wie  ihre eigene Legende. Immer wieder muss sie erzählen, wie  es damals in einem dunklen Kellerverschlag in der Starnbergerstraße in Schöneberg zuging, in dem sie den Naziterror überlebte. Die Hauswartsfrau  hatte das Kind dort bis Kriegsende versteckt. Immer im Dunklen leben und ja keinen Mucks tun, damit die Nachbarn nicht misstrauisch werden. Auch in ihrem Buch „Uns kriegt ihr nicht“ erzählt sie davon. Aber sie will nicht nur mit dieser Vergangenheit leben, sie beschäftigt sich heute zunehmend mit den Wurzeln ihrer Herkunft. Was bedeutet das, Jüdisch Sein, fragt sie sich.  Eine Antwortdarauf gibt auch Mima Funk. Beide Frauen rechnen sich nicht zum  orthodoxen Judentum und Judentum bedeutet für sie auch nicht „Konfession“. Sie sehen sich als freigeistige emanzipierte Frauen, die ihr Judentum so leben wollen, wie sie es für richtig halten. Und an die deutschen Nichtjuden richten sie ihre Forderung, „dass wir nicht vereinnahmt werden wollen für die deutsche Aufarbeitung“ Wie erst kürzlich geschehen, als ein Künstlerkollektiv am Berliner Reichstag eine Gedenksäule errichtete, in der Knochenreste und Asche jüdischer Opfer  der Konzentrationslager in Kunstharz eingegossen seien, wie sie behaupteten, als Mahnmal für die Ermordeten. Nach Protesten sei es mit diesem Spuk schnell vorbei gewesen. Und Rachel Mann  fügt noch hinzu, viel wichtiger sei das Miteinander, der Austausch mit Worten als solche Symbolakte.   So wird sie auch weiter  reden, so schwer es ihr manchmal fällt,  und wieder davon erzählen, wie eine deutsche Hauswartsfrau ihr das Leben rettete.
Von Saskia Reis und Nina Schaefer

Eine Koproduktion des Masterstudiengangs Kulturjournalismus mit dem rbb, in Kooperation mit der Bürgerinitiative „Denkmal am Ort.“ 2019.

Realisation: Michael Ramm, Erik Lehmann, Kaspar Wollheim und Wolfgang Bauernfeind.