Visuelle Dramaturgien im postdramatischen Theater: Kentridge – Castellucci – Goebbels auf der Bühne (Seminar, Deutsch/English)

Cordelia Dvorák
Visuelle Dramaturgien im postdramatischen Theater: Kentridge – Castellucci – Goebbels auf der Bühne
Seminar (Deutsch/English), 2 SWS, 2 LP
Mittwoch, 16-20 Uhr, 14tägig ab 21.10.2015 (8 Termine: 21.10., 4.11., 18.11., 2.12.2015, 13.1., 27.1., 3.2., 10.2.2016), Hardenbergstr. 33, Raum 004

“Everything which is not a story could be a play“ - mit Gertrude Steins provokantem 'dictum' wollen wir zu einer interdisziplinären Übung visueller Dramaturgien im postdramatischen Theater aufbrechen. Als Ausgangspunkt, Inspiration und Provokation sollen aktuelle Theaterarbeiten von William Kentridge, Romeo Castellucci und Heiner Göbbels dienen.

„Ob überhaupt (noch) gesungen werden muss“ fragt sich der Komponist Heiner Goebbels beim Inszenieren seiner Partituren und formuliert daraus seine „Ästhetik der Abwesenheit“; damit meint er vor allem den Abschied von der Bevormundung der Sinne von der Bühne herunter in den Zuschauersaal. Stattdessen plädiert er für ein Theater des offenen Versprechens, das den Zuschauer aus seiner lange praktizierten Entmündigung befreit: an die Stelle der „einschüchternden Schwerkraft des dramatischen Textes“ (Goebbels) setzt Kentridge als Zeichentrickfilmer, Castellucci als Maler und Goebbels als Komponist auf anti-narrative, bildgewaltige szenische Installationen und damit eine Absage an Text, Aktion und Schauspieler/Performer als Zentrum der Aufmerksamkeit. 

Sprache kommt, wenn überhaupt, nur in „homöopathischen Dosen“ (Castellucci) vor, ist aber nicht mehr Träger eines narrativen Inhalts oder konventionellen plots, sondern stattdessen eher komplexer Klangkörper. Bühnenelemente wie Licht, Raum und Klang werden aufgewertet und durch Film, Video, Zeichnung, Malerei und Objekte ergänzt, das Drama in die Sinne verlegt.
In dieser ent-hierarchisierten Polyphonie der Elemente kann der Darsteller sich wie bei Castelluccis „Sacre du printemps“ in Knochenstaub verwandeln oder wie bei Heiner Goebbels „Stifters letzte Dinge“ durch mechanische Klaviere, Steine, Eis, Nebel und Regen ersetzt werden oder wie in „Eraritjaritjak“’ auch ganz von der Bühne verschwinden. 

Im Rahmen des Seminars wollen wir den veränderten Sehgewohnheiten und Gestaltungsmöglichkeiten im postdramatischen Theater anhand praktischer Arbeit an eigenen Projektentwürfen nachgehen. Die unterschiedlichen Arbeitsweisen von Kentridge, Castellucci und Goebbels werden wir in ihrem multidisziplinären Ansatz vergleichen, ihre szenischen topoi untersuchen, ihren jeweiligen Einflüssen und Vorbildern nachgehen, und auch ihre politischen Hintergründe und Kontexte ausloten.
Im Anschluss an einen analytischen Teil sollen eigene experimentelle Ansätze in interdisziplinären Gruppenprojekten ausprobiert und gemeinsam erarbeitet werden. Das Seminar versteht sich als Einladung zum gemeinsamen Nach-Denken, Experimentieren und vitalen Austausch zwischen Theorie und Praxis.

Zielgruppe: Studierende der Darstellenden und Bildenden Künste, Sound Studies, Choreografie, Tanz und Musik, Video- und Film. Praktische Vorkenntnisse und Erfahrungen (im Film und Theaterbereich) wären wünschenswert, sind aber nicht unabdingbare Voraussetzung.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: Aktive und regelmäßige Teilnahme, interdisziplinäre Projekt-Zusammenarbeit. Es wird darum gebeten, von Anfang an ein „Logbuch“ für Aufzeichnungen, Notizen und Skizzen während des Seminars zu führen (mind. DIN 4, mögl. unliniert/unkariert).

Literatur:
Benazra, Neal / Boris, Staci / Cameron, Dan: William Kentridge, 2001.
Cassiers, Guy / Castellucci, Romeo: Europe, le regard des artistes, 2012.
Castellucci, Claudia / Kelleher, Joe: The Theatre of Societas Raffaello Sanzio, 2008.
Christov-Bakargiev, Carolyn / Taylor, Jane: William Kentridge , New York 2003.
Coumans, Sandra T.J.: Geschichte und Identitat: „Black Box / Chambre noire" von William Kentridge, Berlin 2007.
Di Benedetto, Stephen: The Provocation of the Senses in Contemporary Theatre (Routledge Advances in Theatre and Performance Studies), New York 2010.
Elia-Borer, Nadja / Schellow, Constanze / Schimmel, Nina: Heterotopien: Perspektiven der intermedialen Ästhetik, Bielefeld 2013.
Goebbels, Heiner: Ästhetik der Abwesenheit: Texte zum Theater, Berlin 2012.
Kentridge, William / Galison, Peter L.: Die Ablehnung der Zeit (Aus der Reihe: 100 Notes-100 Thoughts, Documenta 13), 2012.
Kentridge, William: Black Box/Chambre Noir , Ausstellungskatalog Deutsche Guggenheim, Berlin 2006.
Les Pèlerins de la matière : Théorie et praxis du théâtre : écrits de la Societas Raffaello Sanzio (Essais), Besançon 2001.
Sandner, Wolfgang / Goebbels, Heiner: Komposition als Inszenierung, Berlin 2002.
Stegemann, Bernd: Kritik des Theaters, Berlin 2013.
Tackels, Bruno: Ecrivains de plateau: Tome 1, Les Castellucci 2005.
Tiedtke, Marion: Die Kunst der Bühne: Positionen des zeitgenossischen Theaters, Berlin 2011.

Cordelia Dvorák ist Regisseurin, Ausstatterin, Kostümbildnerin und freie Produzentin. In Paris und München hat sie Theaterwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte und Literatur studiert, und u.a. bei Marcel Marceau und Anne Sicco in Paris, sowie bei Giorgio Strehler in Mailand am Piccolo Teatro asistiert. Sie war Stipendiatin des Berliner Senats, des Goethe Instituts, des Vassar College Poughkeepsie, New York, des Fondo Nacional para la Cultura y las Artes FONCA, México City, der Fundación Bancomer, sowie des Exzellenz-Mentoring-Programms der UdK: ‚Künstlerische Professur an einer Kunsthochschule’. Seit 1996 arbeitete sie in mehr als sechzig internationalen Opern-, Tanz- und Theaterproduktionen, u. a. an den Kammerspielen München, am Staatsschauspiel Stuttgart, am Grand Théâtre de Bordeaux, an der Opéra de Lausanne, am Teatro São Carlos in Lissabon und an der Nationalen Reisopera in Amsterdam; sowie als Autorin, Regisseurin und Produzentin internationaler Film-Produktionen, Portraits und Video-Installationen, u.a. in Zusammenarbeit mit arte, NDR, SWR, Canal 22. 2008 gewann sie den ersten Preis für bestes Theaterdesign auf der Quadriennale in Prag. Lehraufträge und Gastprofessuren führten sie an die Academy of Performing Arts nach Hong Kong, an das Centro Andaluz de Teatro CAT nach Sevilla, an das Instituto Nacional de Bellas Artes in México City und an das Theatre Department der Montclair States University nach New York. Von 2008-2012 lehrte sie Visuelle Dramaturgie an der Universität Claustro de Sor Juana und an der Hochschule Centro für Film, Fernsehen und Mode in Mexiko City, wo sie 2005 auch ihre eigene Theatergruppe und Produktionsfirma „Compañía Miranda“ gründete. Sie ist Autorin von: „Brecht aprés la chute - Brecht-Rezeption im italienischen Theater“, L’arche-edition, Paris, 1998, Herausgeberin von:„Passione Teatrale - Giorgio Strehler und das Theater“, Henschel Verlag, Berlin, 1999 und der Anthologie: „Neue Theater-Stücke aus Mexiko“, Theater der Zeit, Berlin, 2004. Zur Zeit arbeitet sie u.a. an einem filmischen Portrait über den Autor, Zeichner, Kunstkritiker und booker-Preisträger John Berger: „Das Wunder des Sehens“.