Die queere Performativität der Natur (Seminar)

Cord Riechelmann
Die queere Performativität der Natur

Seminar, 2 SWS, 2 LP
Montag, 16-20 Uhr, 14tägig ab 19.10.2015 (8 Termine: 19.10., 2.11., 16.11., 30.11., 14.12.2015, 4.1., 18.1., 1.2.2016), Hardenbergstr. 33, Raum 110

Die Metamorphose der Schmetterlinge kennt jede/r. Während das Leben der Schleimpilze in Zyklen, die zwischen Individualisierung und der selbstverständlichen Aufgabe derselben hin und herschwimmen, ohne dass das eine das andere ausschließt, wesentlich unbekannter ist. John Tyler Bonner, der sein Leben der Erforschung der Schleimpilze widmete, sah in ihren spontanen Aggregationen von winzigen Individuen zu riesigen bis zu 15 Meter langen Schleimgebilden, die in ihrer Aufsicht dem Bild des U-Bahnnetzes von Tokio sehr ähnlich sein können, den Beginn des Sozialen in der Naturgeschichte. Philosophisch könnte man Bonners Leben als den Versuch des unendlichen Schleimpilz-Werdens beschreiben. Ein Versuch, der andauernd zwischen der festsitzenden und der laufenden Lebensform hin- und hergerissen wird, um letztlich zu erkennen, dass Schleimpilz-Sein eher eine Lebensweise ist, als eine systematisch festgestellte Sache: eine queere, d.h. seltsam unbestimmte Performativität. Eine Performativität, die Rosi Braidotti und Karen Barad als das Wesen des Seins selbst – vom Elektron des Atoms bis zu den Peitschenschwanz-Eidechsen – bestimmt haben. Das Seminar soll anhand von konkreten Beispielen aus Natur und Kunst dem Gedankengang der bedeutendsten Theoretiker/innen eines Materialismus des Werdens versuchen zu folgen.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: aktive und regelmäßige Teilnahme.

Literatur:
Barad, Karen: Verschränkungen. Merve Verlag 2015.
Bonner, John Tyler: Evolution und Entwicklung. Reflexionen eines Biologen. Viehweg 1995.
Braidotti, Rosi: Metamorphoses. Towards a Materialist Theory of Becoming. Polity Press 2002.
Hamilton Grant, Ian: Schleim und Sein: Die Mathematik des Protoplasmas in Lorenz Okens ‘Natur-Philosophie’. In: Avanessian, Armen / Quiering, Björn (Hg.): Abyssus Intellectualis. Merve Verlag 2013.

Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der FU Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Schreibt für diverse Zeitungen u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die Süddeutsche Zeitung, den Merkur, die taz und die jungle world. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003) und „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004). 2008 erschien eine Sammlung der Stimmen der Tiere Europas, Asiens und Afrikas, 3 CD’s bei kein und aber. Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. Zuletzt erschien „Krähen. Ein Porträt“ bei Matthes & Seitz.