Gewaltgeschichte und Vergessen

Cord Riechelmann
Gewaltgeschichte und Vergessen

Seminar, Deutsch/Englisch, 2 SWS, 2 ECTS
Donnerstags, 6 Termine, 16-20 Uhr: 25.4., 23.5., 6.6., 27.6., 4.7., 18.7.2024, Hardenbergstr. 33, Raum 110

Anmeldung auf Moodle beginnt am 15.04.2024:
https://moodle.udk-berlin.de/moodle/course/view.php?id=2240
Moodle Enrollment Key / Einschreibeschlüssel: gewalt

Gewalt durchzieht die Moderne, wie extrem unfreie Arbeit die Geschichte des Kapitalismus begleitet. Gewalt verstanden als etwas, das körperlich erfahren wird, das von Körpern an Körpern ausgeübt wird, ist eine historische Erfahrungsweise wie es eine historische Handlungsform ist. Gewalt macht den Körper selbst zu einem gewaltkolonialen Archiv. Zu einem Archiv, das nicht bloß die Wunden der eigenen Gewalterfahrung eines Individuums mit seinen auch schützenden Erinnerungsverlusten mit sich trägt, sondern noch Generationen später symptomal in Erscheinung treten kann, ohne das so ohne weiteres der Anlass der Symptome am Körper der später Geborenen identifiziert werden könnte. Das ist eine Tatsache, die die neueren Neurowissenschaften so klar diagnostizieren, wie sie gesellschaftlich immer noch unverarbeitet ist. Die Kulturwissenschaftlerin Iris Därmann, die nicht nur die Gewaltgeschichten von versklavten Menschen und internierten KZ-Häftlingen untersucht hat, sondern auch die sie begleitenden politischen Philosophien, hat für das Kontinuum der Gewalt vom Kolonialismus bis in die neueren Gewaltregime wie das der Nazis eine sie durchziehende Kraft gefunden, die sie „Gewaltlust“ nennt. Demnach sind die Gewaltexzesse des Kolonialismus wie der Faschismen der Vergangenheit und Gegenwart nicht einfach bürokratische Handlungsformen, sondern immer mit einer sadistischen (Gewalt-) Lusterfahrung verbunden, die bis heute auch unserer Alltagspraxen durchzieht. Im Seminar soll ausgehend von den Texten Därmanns auch nach Formen der Möglichkeit der Unterbrechung des Gewaltkontinuums z.B. in antisadistischen Schreibweisen wie sie Frantz Fanon, Rene Girard, Primo Levi und Saidiya Hartman entwickelt haben, gefragt werden.

Literatur (in zeitlicher Folge der Behandlung im Seminar):
Teresa Koloma Beck / Klaus Schlichte: Theorien der Gewalt. Zur Einführung.Hamburg 2014.
Iris Därmann: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie.Berlin 2020.
dieselbe: Sadismus mit und ohne Sade.Berlin 2023.
Frantz Fanon: Schwarze Haut, weiße Masken. Wien 2016.
Rene Girard: Das Heilige und die Gewalt.Ostfildern 2012.
Saidiya Hartmann: Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint). Berlin 2022.
Primo Levi: Ist das eine Mensch? München 2011.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: Zuhören, Mitdenken und Argumente entwickeln.

Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003), „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004) und Herausgeber „Zu einer Ästhetik des Lebendigen“ (2015). Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. 2013 erschien das Buch „Krähen. Ein Porträt“ bei Matthes & Seitz, „Vögel“ (2021) im Dudenverlag, und zuletzt „Leichtes Unbehagen. Von Menschen und anderen Tieren“ (2022) zusammen mit Rosemarie Trockel im Verlag der Buchhandlung Walther König. Riechelmann schreibt für diverse Zeitungen, u.a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die taz und cargo. Er unterrichtet wiederkehrend im Studium Generale der Universität der Künste Berlin.