Räume des Gegenwärtigen

Prof. Dr. Thomas Düllo
Räume des Gegenwärtigen

Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 18-20 Uhr, wöchentlich ab 26.4.2022, Hardenbergstr. 33, Raum 004

Das Gegenwärtige ist gar nicht so leicht zu bestimmen, auch wenn es wahrnehmbar ist. Gegenwärtigkeit muss erscheinen. Sie braucht einen Klang, einen Tonfall, passende Worte, geeignete Bilder. Sie braucht auch Sichtbarkeit. Eine Form der Sichtbarkeit sind Räume. Räume des Neuen, Anderen, Überraschenden, der Innovativen und des Jetzt. Räume des Gegenwärtigen befinden sich nicht nur in der Gegenwart, sie können auch sich im kulturellen Gedächtnis verorten, wenn diese Räume noch ein Nachleben haben, eine Energie besitzen, etwas, was uns heute noch anfixt. Wir konzentrieren uns auf Versammlungsorte von Kunst- und Kulturproduzierenden. Das Chelsea Hotel, ein Künstlerhotel im New York der 1960er Jahre, wo Patti Smith, William Burroughs oder Nico das Experiment erprobten, Gegenwärtigkeit zu artikulieren, wäre ein solcher Raum. Oder Andy Warhols Factory. Oder ein kleines Studio in der Provinz, in Wümme, wo der Krautrock erfunden wurde, der gerade wieder neu entdeckt wurde. Oder das Cabaret Voltaire der Dadaisten, das Café Flore oder der romantisch-emanzipatorische Salon von Rahel von Varnhagen, aber auch temporäre Räume der Kunst- und Kulturproduktion im zeitgenössischen Berlin. Dokumentationen und Repräsentationen dieser Orte (in Literatur, Musik, Filmen, Fotografie, Malerei) sind auf ihre Gegenwätigkeitssemantik hin zu studieren. Fragestellungen und Erkundungsaufgaben lauten: Was macht einen Raum zu einem konkreten Ort für Praktiken der Gegenwärtigkeit (de Certeau: „Insgesamt ist der Raum ein Ort, in dem man etwas macht“)? Wie zeigt sich, wie artikuliert sich Gegenwärtigkeit an den jeweiligen Orten – z.B. in Form von performativen, transformativen, partizipativen, avantgardistischen, epistemischen, ritualisierten Qualitäten? Lassen sich vergleichend bestimmte Raumqualitäten identifizieren für die Produktion von künstlerischer, dialogischer, vielstimmiger Gegenwärtigkeit?

Das Seminar möchte solche Orte des Miteinander von Künstler*innen, die sich in der Vergangenheit der Idee Gegenwärtigen verschrieben haben oder sich ihr im Augenblick (in Berlin und anderswo) verschreiben, erkunden und kartographieren. Jede Teilnehmerin, jeder Teilnehmer macht sich zum Experten für einen solchen Ort und durchmustert seine Qualitäten. Eine kleine, kommentierte Karte von Räumen des Gegenwärtigen, gespickt mit deren Semantiken, Ästhetiken und Verheißungen, soll entstehen. Dafür brauchen wir Sehhilfen, also Kategorien des Räumlich-Gegenwärtigen. Diese werden wir selbst finden müssen, aber auch im Dialog mit Raumtheorien (Bachelard, Deleuze/Guattari, Foucault, Flusser, Augé, Dell, u.a.) hilfreich nutzen und weiterentwickeln können.

Erste Literaturen:
Nadine Marquardt/Verena Schreiber (Hg.): Ortsregister. Ein Glossar zu Räumen der Gegenwart. Bielefeld 2012.
Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Berlin 1988 (Darin Kap. 9: "Berichte von Räumen", S. 215-238.
Patti Smith: Just Kids. Köln 2010. (Darin das Kapitel „Hotel Chelsea“, S. 111-246).
Lauren Elkin: Flâneuese. Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio, Venedig und London. München 2016 (darin „Cafés wo man“, S. 57-92).
Philipp Osswalt: Berlin_Stadt ohne Form. Strategien einer anderen Architektur. München 2000. (Darin „Temporärer Raum“, S. 266-289).
Arno Brandlhuber et al. (Hg.): The Dialogic City – Berlin wird Berlin. Köln 2015. (Darin „Du willst doch nicht an einen Ort gehen, der für dich gemacht ist“, S. 383-393).
Michel Foucault: Die Heterotopien. In: Ders. Die Heterotopien. Der utopische Körper. Frankf./M. 2005, S. 7-22.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: Regelmäßige aktive Teilnahme. Lektüre ausgewählter Texte rund um das Thema „Räume des Gegenwärtigen“. Übernahme einer Expertise für einen konkreten Versammlungs-Ort von Künstler*innen und Kulturschaffenden im Geist der Gegenwärtigkeit.

Thomas Düllo, Literatur- und Kulturwissenschaftler mit akademischen Stationen Münster, Magdeburg, Berlin. Bis 2020 Universitätsprofessor für Texttheorie und Textgestaltung an der UdK Berlin im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation (GWK). Dem Studium Generale seit Jahren verbunden als Geschäftsführender Direktor (bis 2019) und als Lehrender. Seit der Pensionierung weiter trans- und interdisziplinär aktiv als Autor und Dozent in den Themengebieten: Text, Kontext & Narration; Praxiszugänge und Praxisforschung; Third Mission/Transfer; Material Culture, Popular Culture, Urban Culture; Transformationsforschung; das Wissen der Künste, der Literatur und des Materials / kulturwissenschaftliche Konsumforschung.