Identifikation und Identität

Cord Riechelmann
Identifikation und Identität

Online-Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 14-18 Uhr, 14-tägig, 8 Videosessions: 10.11., 24.11., 8.12., 22.12.2020, 12.1., 26.1., 9.2., 23.2.2021

Als Stuart Hall 1994 in Harvard seine Vorlesungen zum verhängnisvollen Dreieck „Rasse, Ethnie und Nation“ hielt, waren Globalisierung und der „Sieg des Westens“ noch weitreichende Versprechungen. Die gegenwärtig zu beobachtenden Tendenzen zu Nationalismus und Populismus steckten mit Silvio Berlusconis „Forza Italia“-Bewegung noch in den Kinderschuhen und waren auf Italien beschränkt. Hall, der wirkmächtigste Mitbegründer der „Cultural Studies“, hatte aber bereits 1992 mit seinem Text „The West and the Rest“ den Westen davor gewarnt, seine eigenen Differenzen unter Stereotypen wie Demokratie, Marktwirtschaft und säkularen Rechtssystemen zu begraben. Halls Argument gegen die grobe, um nicht zu sagen: grobschlächtige Vereinfachung, die sich im Terminus „der Westen“ versteckt, beharrte auf der schlichten Erkenntnis, dass sich jedes
Identitätsbewußtsein nur angesichts des „Anderen“ konstituieren könne. Und dieses Andere also immer Teil jeder Identität sei und somit nicht ans Ende der Welt verdammt werden könne.

Heute, da „der Westen und der Rest“ zum geflügelten Wort der postkolonialen Studien geworden ist und mit Halls Autobiographie „Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln“ auch der Lebensbericht eines in der Karibik kolonisierten Intellektuellen vorliegt, kann man beides, Halls Texte und Leben, als Wegweiser in die aktuellen Kämpfe gegen Rassismus, Sexismus und zunehmende soziale Ungleichheit lesen. Im Seminar sollen auf der Folie von Halls Lebensbericht Worte wie Rasse, Ethnie und Nation im Laufe ihrer Geschichte verfolgt werden und in Beziehung zu Begriffen wie Identifikation und Identität gesetzt werden. Halls Texte bieten sich dazu an, weil er seine Biographie immer auch in seine theoretischen Konzepte einfließen ließ. Wobei Halls Credo, nach dem es „einer Menge an theoretischer Arbeit“ bedarf, um populär-kulturelle Phänomene zu verstehen, zwar nicht als Abschreckung hier zitiert wird, sondern als Hinweis darauf, dass die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Texten der Theorie eine hilfreiche Zutat zur Teilnahme am Seminar ist.

Literatur:
Akomfrah, John: The Unfinished Conversation. 3-Kanal-HD-Film, 2012.
Därmann, Iris: Undienlichkeit. Gewaltgeschichte und politische Philosophie. Berlin, 2020.
Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken. Wien + Berlin, 2016.
Foucault, Michel: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France 1975-76, Frankfurt am Main, 1999.
Glissant, Edouard: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Peotik der Vielheit. Heidelberg, 2005.
Hall, Stuart: „Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten“ sowie „Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht“. Beide Texte finden sich in: Stuart Hall: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg, 1994.
Hall, Stuart: Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation. Berlin, 2018.
Hall, Stuart: Vertrauter Fremder. Ein Leben zwischen zwei Inseln. Hamburg/Berlin, 2020.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: aktive, regelmäßige Teilnahme und Textlektüre.

 

Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003) und „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004). 2008 erschien eine Sammlung der Stimmen der Tiere Europas, Asiens und Afrikas, 3 CDs bei kein und aber. Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. Zuletzt erschien das Buch „Krähen. Ein Porträt“ (2013) bei Matthes & Seitz. Riechelmann schreibt für diverse Zeitungen u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, den Merkur, die taz und die jungle world. Er unterrichtet wiederkehrend im Studium Generale der Universität der Künste Berlin.