Die Vermögen der Körper

Cord Riechelmann
Die Vermögen der Körper

Online-Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 14-18 Uhr, 14-tägig, 7 Videosessions: 20.4., 4.5., 18.5., 1.6., 15.6., 29.6., 13.7.2021

Als ein Virologe während der zweiten Welle der Corona-Pandemie anmerkte, wir müssten mehr das Verhalten der Menschen studieren, um wirklich zu verstehen, wie sich die Viren tatsächlich verbreiteten, hatte er ins Schwarze getroffen. Wir wissen (immer noch) nicht, was ein Körper, ein Organismus als sich im Raum bewegende Entität vermag. Als Gilles Deleuze um 1968 die alte Frage Spinozas – Was vermag ein Körper? – wieder aufwarf, hatte er ein doppeltes Anliegen. Zum einen ging es ihm darum, Spinozas Ethik als eine Ethologie, eine Verhaltenswissenschaft und -forschung zu lesen. Zum anderen aber wollte er die Fähigkeit des Körpers zu affizieren und affiziert zu werden nicht den neuen Beschreibungen der kleinstmolekularen Sichtweisen von Genetik und Neurowissenschaften überlassen. Dabei verstand er die Fähigkeit zu affizieren und affiziert zu werden ausdrücklich mit der medizinischen Bedeutung, dass es sich bei diesen Kräfteverhältnissen zwischen Körpern, auch um ein vergiftendes Verhältnis handeln kann. Wie aber kann man unter den Bildern des Körpers, seiner Form und Funktionsweise, wie sie die aktuellen molekularen Wissenschaften liefern, wieder ein davon nicht (vorher-) bestimmtes Bild eines ganzen Organismus gewinnen, ohne im Kitsch fernöstlicher Körpertechniken wie Yoga oder Meditation das Heil für den Horror und Stress unserer Tage zu suchen? Wie also kann man überhaupt erst einen Blick auf seinen Körper „zurückgewinnen“, wie es Judith Butler formuliert, der das tatsächlich eigene Vermögen, das Können dieses Körpers erfasst oder erkennt?

Ohne vorrangig diese Frage beantworten zu wollen, soll es im Seminar darum gehen, Körperbilder und Vorstellungen von Aristoteles über Spinoza bis zu Judith Butler unter dem Gesichtspunkt der aktuellen Krisenphänomene zu betrachten und nach ihren bis heute spürbaren Nachwirkungen zu fragen, wie es Giorgio Agamben mit Aristoteles Überlegungen zum Körper der Sklaven tut.

Literatur:
Agamben, Giorgio: Der Gebrauch der Körper. S. Fischer Verlag 2020.
Butler, Judith: Körper von Gewicht. Suhrkamp 8. Auflage 2014.
Deleuze, Gilles: Spinoza. Praktische Philosophie. Merve Verlag 1988.
Deleuze, Gilles: Was kann ein Körper? In: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 191-206.
Laurent, Eric: Die Kehrseite der Biopolitik. Eine Schrift für das Geniessen. Turia + Kant 2019.
Spinoza, Baruch de: Ethik. Alle verfügbaren Ausgaben sind willkommen.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: aktive, regelmäßige Teilnahme und Textlektüre.

Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003) und „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004). 2008 erschien eine Sammlung der Stimmen der Tiere Europas, Asiens und Afrikas, 3 CDs bei kein und aber. Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. Zuletzt erschien das Buch „Krähen. Ein Porträt“ (2013) bei Matthes & Seitz. Riechelmann schreibt für diverse Zeitungen u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, den Merkur, die taz und die jungle world. Er unterrichtet wiederkehrend im Studium Generale der Universität der Künste Berlin.