Moralische Identität

Prof. Dr. Philipp Hübl
Moralische Identität

Online-Seminar (als Vorlesung anrechenbar), Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Mittwochs, 16-18 Uhr, wöchentlich, ab 21.4.2021

Fragt man Menschen, die gerade ein Steak essen, ob Rinder Empfindungen haben, so antworten sie seltener mit «ja» als Salatesser. Das kann man als Strategie betrachten, kein schlechtes Gewissen zu haben. Wenn Tatsachen oder Argumente dem eigenen Verhalten widersprechen, kann man auf zwei Weisen reagieren, um eine «kognitive Dissonanz», eine innere Unstimmigkeit, aufzulösen: sein Verhalten ändern oder die Welt umdeuten. Menschen tendieren zur zweiten Strategie. Sie ignorieren und relativieren unliebsame Fakten, oft ohne es zu merken, weil sie ihr «Ich-Ideal» erhalten wollen. Unsere Moral (unsere Werte und Normen), so scheint es, ist zentral für unsere Identität.

Philosophen diskutieren unter dem Begriff «personale Identität» die Frage, wie wir dieselben bleiben, obwohl wir uns über die Zeit verändern. In der Psychologie umfasst das Thema «Identitätsschutz» unsere Neigung, durch interessengeleitetes, ideologisches Denken («motivated cognition») unser Selbstbild zu erhalten. In der Kultur- und Politikwissenschaft steht «Identitätspolitik» als Sammelbegriff für Initiativen von Minderheiten, ihre Besonderheiten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft selbstbestimmt sichtbar zu machen. Auf den ersten Blick scheint es sich um drei grundverschiedene Phänomene zu handeln, in denen nur zufällig das Wort «Identität» vorkommt. Auf den zweiten Blick jedoch haben alle drei einen Ursprung in unserer moralischen Identität.

Im Seminar gehen wir der Frage nach, warum uns Moral so wichtig ist, dass wir erbittert, unnachgiebig und sogar mit unfairen Mitteln darum streiten. Warum eskalieren die Diskussionen in den sozialen Medien besonders schnell? Wann sind moralische Vorwürfe gerechtfertigt und wann dienen sie lediglich der Selbstdarstellung? Wieso erkennen wir die moralischen Widersprüche unserer Gegner problemlos, sind aber blind für unsere eigenen und die unserer Gruppe?
Wir lesen unter anderem Texte von Appiah, Campbell/Manning, Haidt, Heyes, Kahan, Rozin, Sktika, Strominger/Nichols und Tosi/Warmke.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: Referat/kurze Präsentation eines Textes/Themas.

Philipp Hübl ist Philosoph und Autor der Bücher „Die aufgeregte Gesellschaft“ (2019), „Bullshit-Resistenz (2018), „Der Untergrund des Denkens“ (2015) und „Folge dem weißen Kaninchen“ (2012) sowie von Beiträgen zu gesellschaftlichen und politischen Themen, unter anderem in der Zeit, FAZ, taz, NZZ, auf Deutschlandradio und im Philosophie Magazin. Hübl hat Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Universität Berlin und zuletzt als Juniorprofessor an der Universität Stuttgart gelehrt. Studium der Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford. Seit dem WS 2020/21 ist Philipp Hübl Gastprofessor für Kulturwissenschaften im Studium Generale der UDK Berlin. Weitere Informationen unter http://philipphuebl.com.