Wahrnehmung und Konstitution

Dr. Cornelia Heering
Wahrnehmung und Konstitution

Online-Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 14-16 Uhr, wöchentlich ab 20.4.2021

Der Körper spürt sich selbst erst in der Krise. Diese Krise impliziert, dass die Zerstörung oder die Neuschaffung das Ergebnis der Krise sein können. Und die Krise ‚geht‘ durch den Körper. Dieser Sachverhalt betrifft tote Gegenstände, wie Vasen und Teetassen, und auch Lebewesen.
Bei Letzteren besteht die Besonderheit darin: Eine Krise sensibilisiert alle Sinne, sie stellt den Grundzustand „Ruhe, stumm“ auf „Bewegung, roten Alarm“. Dieser Alarm bedeutet ‚Flucht, Schrei‘ oder ‚Innehalten und Verharren‘. Immer steht das Lebewesen dabei vor einer Entscheidung, und erst im Nachhinein weiß es, in der Reflexion, wenn das Überleben gelungen ist, ob es aus einer Willensentscheidung heraus in Erstarrung verharrend oder zum Aufbruch motiviert unwillentlich reagiert hat. Der Lernprozess des Gehirns beginnt dann, wenn die Krise simuliert, wiederholt, angeeignet und neu konfiguriert weiterwirkt. Die Besonderheit menschlicher Lebewesen ist also die Fähigkeit zum Weiter-Denken, das Bewusstsein, die Erinnerung und das Vorausschauen. Und dieses wirkt sich wiederum auch auf die beobachtete Krise des Zustands, der Konstitution von Körpern, die wir uns zu Objekten machen und dadurch schaffen und zerbrechen, aus.

Das Seminar befasst sich zunächst mit einer genauen Definition der zugrunde gelegten Begriffe und sodann mit Beobachtungen. Der Ausgangspunkt ist der Satz von John Searle: „Gehirne verursachen Erfahrungen“ (zitiert nach Susan Blackmore). Anders formuliert: ‚Aufbrüche aus der Ruhe‘ ist das Thema unseres Denkens, mithin unserer besonderen Körper und ihrer Krisen. Motive des Aufbruchs und des notwendigen stummen Verharrens davor zu untersuchen, zu beschreiben und selbst in eigenen Szenen und Sequenzen mit den Teilnehmenden durchzuprobieren, wird den zweiten Schritt der methodischen Analyse des Themas beinhalten.

Das Seminar setzt den Akzent auf die Kombination von Texten und Theorien zum Thema „Wahrnehmung“ mit der Eigeninitiative der Teilnehmenden. Dies bedeutet, dass jeweils eine performative Handlung angeregt und angestoßen wird und durch die Lektüre von Wahrnehmungstheorien erläutert, verständlich oder uminterpretiert wird. Die Gestaltung oder Darstellung eigener „Aufbrüche“ der teilnehmenden Studierenden ist Ziel der einzelnen Seminarsessions. Die Formen sind: Präsentation, Gespräch, Inszenierung und Begleitung durch die Auswertung von Beobachtungs- und Verstehensprozessen. 

Das Seminar richtet sich an Studierende der diversen Kunstrichtungen Architektur (z.B. Raumgestaltung und Fluchtlinien), Musik (Ursprung und Überwindung, z.B. Mozart und Beethoven), darstellende Kunst (Abbild und Verfremdung), aber auch an Studenten*Innen des Studienganges GWK. Denn auch die sogenannte „Auftragskunst“ (Leibniz‘ Herrenhäuser Gärten) impliziert ein kreatives Movens der Veränderung der Darstellung und des Verstehens von Natur und Wirklichkeit.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: regelmäßige aktive Teilnahme, Gestaltung einer Blockseminarveranstaltung oder Kritik eines der gelesenen Autoren: S. Blackmore, M. Tomasello, C. Lévy-Strauss, C. Taylor, U. Eco.

Literatur:
Blackmore,  Susan: Gespräche über Bewusstsein (2012) sowie Evolution und Meme. Das menschliche Gehirn als selektiver Imitationsapparat (2003).
Bredekamp, Horst: Theorie des Bildaktes (ca. 2004).
Descola, Philippe: Jenseits von Natur und Kultur (2011).
Eco, Umberto: Die Geschichte der Schönheit (2012).
Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1778).
Lévy-Strauss, Claude: Das Ende der Reisen. In: Traurige Tropen (1978).
Merleau-Ponty, M.: Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung (1974).
Reinhold, Karl Leonhard: Versuche einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (1786).
Taylor, Charles: Das sprachbegabte Tier (2017).
Tomasello, Michael: Mensch werden – Eine Theorie der Ontogenese (2020).

Cornelia Heering verantwortet die Strategie, die Entwicklung und Vermarktung erfolgreicher Lehr- und Lernmedienkonzepte nach den Lehrplanrevisionen seit PISA in einer Verlagsgruppe. Sie studierte Germanistik und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Dort hat sie als Lehrbeauftragte Seminare u.a. zu den Themen „Bildung und Spiel“, „Am Anfang steht das ABC-Buch“, „Konzeption und Analyse von Lesebüchern“, „Rebellion gegen die Weiblichkeit - Biographieforschung am Modell Cornelia Goethe“ durchgeführt. Sie promovierte über „Die Kultur des Kriminellen - Literarische Diskurse zwischen 1918 und 1933“.