Was sieht, wer einen Affen sieht

Cord Riechelmann
Was sieht, wer einen Affen sieht

Analoges Seminar, Deutsch, 2 SWS, 2 ECTS
Dienstags, 14-18 Uhr, 14-tägig, 8 Termine: 26.10. (online), 9.11., 23.11., 7.12., 21.12.2021, 18.1., 1.2., 15.2.2022, Hardenbergstr. 33 Raum 102

Die Geschichte der Primatologie, die man 1923 mit dem Kauf von zwei jungen Menschenaffen durch den Psychologen Robert Yerkes im Hafen von Boston beginnen lassen kann, beschreibt exemplarisch, was der Biologe und Erkenntnistheoretiker Humberto Maturana unter der Position des*der Beobachter*in verstand. Die beobachtende Person erkläre und erkläre in seinem*ihrem Erklären sich selbst und den Prozess des Beobachtens, schrieb Maturana und fügte hinzu: „was der Beobachter/ die Beobachterin erklärt, ist seine oder ihre Erfahrung, nicht eine unabhängige Welt“.

Und weil die Primatologie im Lauf ihrer Geschichte von einer von Männern dominierten Wissenschaft durch den „Auftritt der Töchter im Feld des Jägers“ (Donna Haraway) zu einer der ersten Wissenschaften wurde, die nicht nur in der Mehrzahl von Wissenschaftlerinnen betrieben, sondern auch institutionell hauptsächlich von Frauen repräsentiert wurde, änderte sich mit dieser Entwicklung in ihr auch das Bild von „der Natur“ der Primaten bzw. Affen. Ausgehend von Donna Haraways Hauptwerk „Primate Visions. Gender, Race and Nature in the World of Modern Science“ sollen im Seminar der Wandel zentraler Begriffe wie Krieg und Frieden, Geschlecht und Natur im Rahmen einer konkreten Wissenschaft und ihrer Beobachterinnen verfolgt, um nicht zu sagen: beobachtet werden. Ziel soll es dabei u. a. sein, ein Gespür dafür zu bekommen, dass wir es sind, die die Welt hervorbringen, die wir leben und warum das gerade eventuell nicht so richtig gut läuft.

Literatur:
Didier Debaise: Vom Reiz des Möglichen. Natur als Ereignis. August Verlag 2021.
Ludwig Fleck: Schauen, Sehen Wissen. In: ders: Denkstile und Tatsachen. Suhrkamp 2011, S. 390-418.
Stephen Jay Gould: Wie läßt sich ein Affe darstellen? In: ders: Das Lächeln des Flamingos. Suhrkamp 195, S. 205- 220.
Katharina Hoppe: Die Kraft der Revision. Epistemologie, Politik und Ethik bei Donna Haraway. Campus 2021.
Donna Haraway: Primate Visions. Gender, Race, and Nature in the World of Modern Science. Routledge New York London 1989.
Dieselbe: Im Streit um die Natur der Primaten. In: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Campus Verlag 1995, Seite 123-159.
Humberto R. Maturana: Biologie der Realität. Suhrkamp 2000.
Alfred North Whitehead: Wissenschaft und moderne Welt. Suhrkamp 1988.

Leistungsanforderungen für den unbenoteten Studium-Generale-Schein: aktive, regelmäßige Teilnahme und Textlektüre.

Cord Riechelmann, geboren 1960 in Celle, studierte Biologie und Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er war Lehrbeauftragter für das Sozialverhalten von Primaten und für die „Geschichte biologischer Forschung“. Außerdem arbeitete er als Kolumnist und Stadtnaturreporter für die „Berliner Seiten“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Autor der Bücher „Bestiarium“ (2003) und „Wilde Tiere in der Großstadt“ (2004). 2008 erschien eine Sammlung der Stimmen der Tiere Europas, Asiens und Afrikas, 3 CDs bei kein und aber. Er kuratierte zusammen mit Marcel Schwierin das Sonderprogramm zum „Kino der Tiere“ bei den Kurzfilmtagen 2011 in Oberhausen. Zuletzt erschien das Buch „Krähen. Ein Porträt“ (2013) bei Matthes & Seitz. Riechelmann schreibt für diverse Zeitungen u. a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, den Merkur, die taz und die jungle world. Er unterrichtet wiederkehrend im Studium Generale der Universität der Künste Berlin.