Der Kampf-Choreograf

Ein Kampf auf der Bühne oder im Film ist etwas anderes als im Leben: keine Entscheidung um Kopf und Kragen, eher ein Spiel, das die Ernsthaftigkeit einer Aktion vortäuschen soll. Theater eben. Alfred Hartung, Sie nennen sich in Ihrer Vita Kampf-Choreograf, arbeiten als Dozent und Bewegungscoach für Schauspielkunst, Akrobatik und Bühnenkampf an der Universität der Künste Berlin. Grundsätzlich gefragt: Ist ein Gleichgewicht zwischen Illusion und Realität überhaupt herstellbar?

Es ist Theater, und ich stehe dafür, dass kein echtes Blut auf der Bühne fließt. Auch will ich nicht, dass sich die Kämpfenden auf der Bühne verletzen. Trotzdem darf ein Kampf schon realistisch wirken, wenn das Stück es erfordert. Man sollte immer bedenken: Auch die Leute auf der Straße, die miteinander in Streit geraten, können in der Regel kein Karate oder Taekwondo oder sonst was. Es geht um eine Darstellung, die an eine Realität heranreicht, aber für die Schauspieler*innen unbedingt sicher ist. Deshalb arbeite ich viel mit Improvisation und beginne bei meinen Übungen meist am Boden, was natürlich mit Balance zu tun hat. Denn wenn man kniend auf den Matten anfängt und ins Ringen oder Rangeln kommt, ist die Gefahr, sich zu verletzen, nicht so stark. Man fällt nicht so tief, die Beine sind etwas ausgeschaltet. Erst allmählich kämpft man sich nach oben und setzt den ganzen Körper ein, und dieser Kampf kann am Ende sehr realistisch wirken.

Sie unterrichten Bühnendarsteller*innen im Bereich Schauspiel / Musiktheater? Ja, Akrobatik, Stockkampf, Fechten, Tanz, Theatersport, Improvisation. Ich arbeite auch mit Ansätzen des Improvisationstheaters von Keith Johnstone oder nach den Methoden von Jerzy Grotowski, mit denen ich in meiner langjährigen Arbeit in Kontakt gekommen bin. Die Bewegung ist mir zunächst immer wichtiger, und deshalb sage ich am Anfang: Lass den Impuls aus dem Körper kommen und gib erst dann die Sprache dazu. Bühnensänger*innen unterrichte ich in Akrobatik und Improvisation.

Was ist denn das Hauptproblem potenzieller Kämpfer: das Zuschlagen oder das Zurücknehmen? Sie unterrichten ja beides. Schließlich gibt es auf der Bühne ja nicht immer nur Sieger, sondern auch Besiegte. Es gibt das Prinzip des Hoch- und Tiefstatus, und daran gilt es zu arbeiten.

Was meinen Sie damit? Beim Improvisationstheater wird damit das Machtgefälle zwischen zwei Bühnenfiguren bezeichnet: Eine Figur im Hochstatus will immer dominieren und gewinnen. Sie kann sich schwer unterordnen.

Eine Kämpfernatur? Könnte man sagen. Andererseits gibt es Menschen, die vielleicht nicht diese Energie haben, die eher ausweichen, was im Leben ja durchaus ein Zeichen von Klugheit sein kann. Manche Bühnenfiguren können jedoch nicht ausweichen, sondern wollen sich den Problemen stellen. Natürlich müssen die Schauspieler*innen das lernen, und dazu gibt es die unterschiedlichsten Übungen. Ein ganz simples Beispiel: das Ohrfeigen. Manchen fällt es leichter, eine Ohrfeige zu bekommen, als jemanden zu ohrfeigen. Das heißt: Daran muss gearbeitet werden.

Sind die Ohrfeigen denn echt? Im Unterricht trainieren wir echte und unechte Ohrfeigen. Beides ist zu lernen. Auf der Bühne habe ich als Tybalt in „Romeo und Julia“ einmal 18 Ohrfeigen bekommen. Alle echt. Das ging, weil es sehr gut einstudiert und geprobt war. Man kann das natürlich auch faken, indem man kontrolliert vorbeihaut – wobei die beteiligten Körper genau reagieren müssen. Ich muss den Augenkontakt halten, muss im richtigen Moment zurückweichen, ohne dass das Publikum die Absicht merkt. Das heißt, ich muss mir der Blickwinkel der Zuschauenden bewusst sein, dann kann die Szene realistisch rüberkommen.

Noch einmal zurück zu den, primitiv gesagt, Winners und Losers: Werden die auf der Bühne später ihrem Hoch- oder Tiefstatus entsprechend eingesetzt? Ich finde es spannender, wenn Schauspieler*innen, die man dem Tiefstatus zurechnet, den Hochstatus spielen. Das erzeugt eine ganz andere Reibung. In der Praxis bedeutet das: Sie werden nicht immer unbedingt ihrem Typus entsprechend eingesetzt. Ich selbst bin Sportler durch und durch; ich wollte beim Fuß- oder Handball immer gewinnen, und deshalb fiel es mir in meiner Ausbildung lange Zeit schwer, einen Unterlegenen zu verkörpern. Irgendwann konnte ich es zulassen, auch unterlegene Figuren mit Genuss darzustellen.

In der Regel kommen Studienanfänger*innen nicht unbedingt sportlich gestählt in Ihren Unterricht. Was fangen Sie mit denen an? Ich hole sie da ab, wo sie sind. Im Bewegungsunterricht, in den Akrobatikstunden geht das auch ganz gut. Schließlich muss man ja kein Sportler sein, um ein exzellenter Schauspieler zu werden. Wenn wir, das Stehen, Gehen, Laufen, auch die gesunde und ideale Aufrichtung, die Balance trainieren, dann deshalb, damit sie spüren und ihnen bewusst ist – sie werden hier nicht zum Artisten ausgebildet, sondern, um am Ende Menschen abbilden zu können, wie sie diese auch auf der Straße finden. Wenn alle Schauspieler*innen herumlaufen würden wie Bruce Lee, wäre das doch etwas eigenartig.

Trotzdem müssen sie beispielsweise lernen, hinzufallen und sich dabei nicht zu verletzen. Ich fange mit einem Aufwärmtraining an – einem Warm-up, das sich aus meiner langjährigen Erfahrung speist: Ich selbst habe schon früh mit Jiu-Jitsu angefangen, habe lange Taekwondo gemacht, war auf der Artistenschule, studierte da auch Modern und Jazz Dance. Ich versuche, bei den Studierenden erstmal das notwendige Körpergefühl herzustellen. Wenn ich eine gute Aufrichtung habe, verstehe ich auch, wie ich mit meiner Schwerkraft spielen und agieren kann. Wenn ich den Boden nutze und erfahre, dann spüre ich im Fallen, Stolpern, Torkeln, dass der Boden mich fängt oder sogar wieder aufrichtet. Dann kommt der Unterricht ins Rollen: Rolle vorwärts, Rolle rückwärts wie beim Turnen in der Schule oder beim Judo. Dann gehe ich rasch zum Handstand, zum Radschlagen über – und es ist schön zu sehen, wie es die meisten überrascht, wie schnell sie das hinbekommen, sobald sie ihrer Armkraft und sich selbst vertrauen …

Und die Scheu überwinden. Die überwinden sie meist recht schnell. Es gibt Menschen, die leichter nach vorn, und andere, die lieber nach hinten fallen. Ich beispielsweise war immer besser im Salto rückwärts. Sie haben recht, es gilt, die Scheu abzutrainieren und Vertrauen und Verantwortung in und zu sich selbst aufzubauen und zu stärken, besonders gegenüber den Partner*innen. Wichtig ist, dafür einen geschützten Raum zu schaffen. Ängste, wie in der Schule, sind hier hoffentlich nicht in den Köpfen der Studierenden.

Man kann sich bei Ihnen nicht blamieren. Richtig. Alle sollen sich darüber freuen, ihren Körper kennenzulernen. Sollen wissen, was ihr Körper kann. Wenn ich weiß, dass ich die Kraft habe, einen Handstand zu halten, traue ich mir vielleicht eher zu, jemanden zu fangen, falls er in einer Szene mal aus dem Gleichgewicht gerät oder in Ohnmacht fallen soll.

Sind sich denn Ihre Student*innen am Anfang überhaupt ihres Körpers bewusst? Eher nicht. In der Regel kommen die Leute mit wenig Körperbewusstsein zu uns. Und oft haben sie dann ein Aha-Erlebnis, weil sie vorher nicht geahnt haben, was ihr Körper alles kann. Wenn jemandem z. B. rechts alles leicht von der Hand geht, probieren wir das auch mit der linken Hand – einfach um eine Balance innerhalb des Körpers herzustellen. Schließlich gibt es ja später vielleicht mal eine Rolle, in der mit links geschrieben oder gefochten werden muss. Man trainiert das auch, um eine Wachheit zu fördern und dadurch Impulse unmittelbar umsetzen zu können.

Lässt sich denn eine geschlechtsspezifische Körperlichkeit erkennen? Ich finde schon; oft gibt es Frauen, die über tänzerische Erfahrung verfügen und viel Spaß an ihrer Beweglichkeit haben. Vielen fehlt aber die Stütz- und Sprungkraft, die sie dann entwickeln können. Bei den Männern gibt es häufig Erfahrungen im Kampfsport oder Fußballspielen. Hier fehlt oft eine gewisse Beweglichkeit, Weichheit, Dehnfähigkeit. Umso schöner, dann die Freude der Frauen zu erleben, wenn sie es einmal geschafft haben, allein in den Handstand zu gehen und sich dort zu halten, oder die Männer, wenn sie sich in die Brücke drücken oder einen Bogengang machen.

Sind Frauen Ihrer Erfahrung nach heute auf der Bühne kämpferisch mehr gefordert als in früheren Zeiten? Ja, zum Glück. Gefochten wird zwar weniger als früher, aber zum Kämpfen und Prügeln kommen alle, durch eine neue Lesart bei alter wie auch bei neuer Dramatik, und durch das Queer-Besetzen wird auch nicht mehr so stur nach der Stückvorlage besetzt.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Sie bilden keine Stunt-Doubles aus, bei denen, wie wir wissen, ein tödliches Moment durchaus ins Spiel kommen kann. Nein, das ist ein Spezialfach, das hier nur in Ansätzen unterrichtet wird. Aber natürlich machen wir mitunter auch kleinere Stunts, sofern die Voraussetzungen dafür stimmen. Wir hatten mal den „Tartuffe“ (2020, Regie: Hermann Schmidt-Rahmer), bei dem die Student*innen an einem Tau eine dreieinhalb Meter hohe Wand hochklettern mussten. Und in einer „Figaro”-Produktion (2022, Regie: Isabel Hindersinn, musikalische Leitung: Errico Fresis) mussten sie in den Orchestergraben springen. Entsprechend trainiert abgesichert, versteht sich.

Sie selbst haben Jiu-Jitsu gemacht, Taekwondo. Sie unterrichten nicht diese Kampftechniken … aber sie fließen mit Schlag- und Tritttechnik in meinen Unterricht ein. Vor allem beim Fechten kommt das Energische und Vielgliedrige zum Zug. Hier bekommt das Verteidigen und Angreifen eine strenge, eine zielgerichtete Form. Es gibt einen ganz klaren Angriff, bei dem der Körper mitgehen muss. Er muss mitatmen.

Das Fechten ist, historisch gesehen, die Königsdisziplin unter den Kampftechniken. Ein eigenes Fach? Ja, die Unterrichtsfächer sind streng getrennt. Spieltraining, in dem ich viel mit Improvisation arbeite, aus dem Körper heraus und auch Schlag und Tritttechniken vermittle. Dann Akrobatik mit dem ganzen Spektrum von Rolle, Rad, Flic- Flac, Salto, Bogengang, Handstand, Handstandüberschlag. Und der Stockkampf, bei dem ich mit langen und mit kurzen Stöcken arbeite. Das geht auch schon mal ins Tänzerische und das Tolle ist, wie es die Gelenke geschmeidig macht. Mit Fechten fangen wir erst am Ende des zweiten Unterrichtsjahrs an, gerade weil es eine so klare Form ist. Der Unterricht sollte zu Beginn des Studiums erst einmal den Körper für alle Möglichkeiten öffnen und aufwecken, bevor er ihn in eine Form wie z. B. Fechten presst. Wenn der Körper gelernt hat, frei zu laufen, loszulassen, kann man auch wieder mal in eine Form gehen. Denn Schauspieler*innen sollen genau das ja behalten, ihre Natürlichkeit, damit sie alles spielen können.

Fechten ohne sportlichen Ehrgeiz? Das Bühnenfechten unterscheidet sich grundsätzlich vom Sportfechten, bei dem alles so schnell geschieht, dass das Publikum davon kaum etwas mitbekommt. Wenn hingegen Hamlet und Laertes miteinander streiten, will man das als Zuschauer*in miterleben können. Also holt man mit der Waffe etwas weiter aus und kämpft gleichsam abgesichert. Trotzdem ist der Degen nach wie vor eine gefährliche Waffe, selbst wenn die Spitze abgestumpft ist. Deswegen müssen die Körper gut trainiert sein. Das Zustechen, das Abwehren der Waffen, das Fallen, das Balance-Finden muss präzise erarbeitet sein.

Sie verlangsamen das Fechten. So fängt man an. Wenn ich im Freikampf mit dem Degen im Bereich meines Oberkörpers oder in Kopfhöhe den Angriff anzeige, bedeutet das, dass ich nicht auf die Beine schlage. Wenn ich in Hüfthöhe aushole, heißt das immer, dass ich nicht auf den Kopf ziele. Wenn man frei kämpft, ja gerade dann, muss man sich gegenseitig lesen können. Ich habe zu diesem Zweck eine Choreografie erarbeitet, die die Studierenden lernen sollen. Sie endet mit einem Improvisationsteil, bei dem sie schauen können, ob eine Person „stirbt“ oder beide oder keine. Und dann wechselt die Choreografie und fängt von vorn an mit vertauschten Rollen. Die Grundtechniken sind in dieser Choreografie enthalten. Wichtig ist am Anfang, die Waffe erst mal tänzerisch leicht zu führen und weich zu denken. Je besser man damit umgehen kann, umso schneller, kräftiger kann man dann in einen Kampf reingehen.

Kann man die Spannung des auserkorenen Siegers vermitteln, ohne dass die Zuschauer*innen das von Anfang an spüren? Ja, durch Impulse. Durch die Energie. Mit schauspielerischem Talent. Ist sie offensiv, ist sie defensiv? Durch die Schlagkraft.

Die Choreografie bleibt dabei immer dieselbe? Ja, aber wenn zwei miteinander gut agieren, kann man die Schraube etwas anziehen oder in der Improvisation vielleicht etwas wilder frei fechten.

Deutet sich im Fechtunterricht beispielsweise schon eine spätere Spezialisierung an? Gibt es Begabte und Unbegabte? Das Schöne am Theater ist doch, dass einer ein schlechtes Rhythmusgefühl haben, aber brillant schauspielern kann. Und umgekehrt. Man muss keinen Flic- Flac springen können, um z. B. Maria Stuart zu spielen.

Sie selbst unterrichten nicht nur, sie setzen Ihre Kenntnisse auch auf der Bühne und im Film ein. Als Schauspieler hier in Berlin beim Theater Strahl. Mehr noch als Kampfchoreograf und Bewegungscoach im Schauspiel oder beim Film. Das Fechten ist heutzutage da vermutlich weniger gefragt als früher. Das ist schon so. Im Deutschen Theater durfte ich einen schönen Fechtkampf für „King Lear“ (2019, Regie: Sebastian Hartmann) choreografieren. Aber es sind nicht nur Fechtkämpfe. Peter Zadek wollte für sein „Ghetto“ an der Freien Volksbühne Berlin (1985) eine artistische Szene, mit Handüberschlägen und Durch-die-Luft-Werfen. Richtig Zirzensisches wurde von mir im Grips Theater für das Stück „Die Faxen dicke“ von Christian Giese (2005, Inszenierung: Frank Panhans) erwartet. In der Semperoper habe ich für „Alcina“ (2011, Inszenierung: Jan Philipp Gloger) den in Tiere verzauberten Männern die Bewegungen der Tiere beigebracht und war hauptverantwortlich für die Choreografie. Am meisten choreografiere ich aber für die UdK im Rahmen der Szenenarbeiten von Studierenden. Wir haben hier schon „Romeo und Julia“ (2014, Szenestudium) auf die Bühne gebracht, mit einer tollen Fechtszene. Während der Corona-Zeit habe ich eine äußerst interessante Arbeitserfahrung machen dürfen: Ich habe Kämpfe choreografiert, die auf Distanz erfolgen mussten – das war eine ganz neue Herausforderung, weil dabei viel genauer, viel wacher gearbeitet und von den Studierenden agiert werden musste. Eine gute Balance war dabei eine der elementarsten Voraussetzungen – physisch und natürlich auch psychisch.

Alfred Hartung ist Schauspieler, Kampfchoreograf und Dozent und Bewegungscoach für Schauspielkunst, Akrobatik und Bühnenkampf. Die Fragen stellte Hartmut Regitz, Tanzkritiker und Autor.