Der öffentliche Raum ist ein Battlefield

Georg Klein, Sie bewegen sich in den Grenzgebieten von Klang- und Videokunst, sind Komponist und arbeiten extensiv im öffentlichen Raum, verführen und führen Ihr Publikum in ein unsicheres Terrain voller irritierender Klänge und Fragen nach Existenz und Identität. Ihr Dystopie-Festival vor genau zwei Jahren, vor dem zweiten Lockdown, hat mit seinen hypnotisch-futuristischen Installationen einen Nerv getroffen und eine Parallelwelt aus Sound geöffnet. Seit diesem Herbst sind Sie Studiengangsleiter der Sound Studies and Sonic Arts am Berlin Career College. Woran arbeiten Sie, was interessiert Sie gerade?

Das ist eine schwierige Frage, weil ich gerade erst dabei bin, die Verwaltungsvorgänge und -strukturen der UdK Berlin kennenzulernen und zu verstehen und meine künstlerische Arbeit zurückgestellt habe. Aber mit dem Dystopie-Festival, das Sie erwähnen, wollten wir jetzt in die nächste Runde gehen. Das große Pech war, dass das diesjährige Gastland Russland gewesen wäre. Alles war schon vorbereitet, letzten Herbst habe ich in Moskau mit den Kuratoren gesprochen, Künstler kennengelernt. Dystopie ist ja inzwischen ein Schlagwort geworden, aber man erwartet es nicht unbedingt bei einem Klangkunstfestival. Damit wollten wir ein Statement machen. Es geht uns um politische Auseinandersetzung mit klangkünstlerischen Mitteln, und da hätte Russland gut gepasst. Nun wird das nicht stattfinden.

Wie werden Sie das Projekt dann weiterverfolgen? Der Förderantrag bei der Kulturstiftung des Bundes war schon gestellt, den mussten wir zurückziehen und haben ein verändertes Konzept für nächstes Jahr eingereicht. Wir bleiben bei einem Osteuropa-Schwerpunkt. Als politisches Festival kooperieren wir gerade mit Ländern, in denen es Spannungen gibt und wo man die dortige Kunst- und Künstlerszene unterstützen kann. Es hat einem das Herz gebrochen, den Moskauer Kuratoren abzusagen, zumal Dystopie als Thema umso mehr in diese Kriegszeit gepasst hätte.

Sie arbeiten oft ortsspezifisch. Suchen Sie sich den Ort oder findet der Ort Sie? Das Recherchieren nach einem guten Ort ist ganz elementar für mich. Aber es ist beides. Ich suche nach einem Ort und der Ort findet mich. Ein guter Ort hat eine gewisse Grundspannung. Dort eine Spur zu finden, die mich inhaltlich interessiert, aber auch architektonisch, sozial und natürlich akustisch, das ist wichtig. Aus dieser Spur entwickelt sich dann das Projekt.

Aus dem Ort heraus. Meistens. Ich arbeite oft mit einer klanglichen Grundatmosphäre – der Ort gibt die Stimmung oder die Färbung vor. Und darin tauchen dann weitere Elemente auf. Die sind sehr oft mit Text, mit gesprochener Sprache, also mit Stimmen verbunden, die als „kleine Nadelstiche“ ein assoziatives Reflexionspotenzial haben. Das Interessante an dieser Art „Ortsklang“ ist, aus dem Ort heraus den Ort selbst zu transformieren, ihn zur Sprache zu bringen und so die Menschen in und mit ihrem Alltag zu konfrontieren und in einer konkreten Situation zu erreichen.

Man kann seine Augen schließen, seine Ohren nicht … Inzwischen leider schon, mit Kopfhörern. Für mich, der künstlerisch im öffentlichen Raum arbeiten möchte, ist das eine sehr negative Entwicklung, weil die Leute ihre Umwelt akustisch gar nicht mehr wahrnehmen.

Darauf haben Sie auch reagiert … mit Soundtracks für Kopfhörer; vor zehn Jahren habe ich damit angefangen. Es gibt noch immer einen Sound Walk von mir in Berlin, „Toposonie“ (2013), entlang der Spree im Regierungsviertel – da geht es um Lobbyismus. Schilder am Ufer weisen darauf hin, und man kann ihn sich herunterladen. Wir sind visuell geprägte Menschen, auch in der Wahrnehmung des Alltags. Und wenn akustisch etwas irritierend ist, ist es irritierender als etwas Visuelles. Klang, glaube ich, läuft ganz maßgeblich über eine Anfangsirritation.

Spielen mit Realitäten. Das ist gerade in diesem Sound Walk eine ganz entscheidende Ebene, weil ich da besonders gut mit einer „zweiten“ Realität arbeiten konnte. Man hört mit den Kopfhörern und bewegt sich im selben realen Raum, die akustische Ebene ist gedoppelt. Man hört den Sound Walk, relativ leise, aber auch das, was außen ist. Den Text zum Lobbyismus habe ich mit einem Schauspieler und Sprecher genau dort an diesem Ort aufgenommen mit speziellen binauralen Mikrofonen. Um mal einen Effekt zu schildern: In der Aufnahmesituation fuhr ein Radfahrer von hinten an uns vorbei. Hört man das dann später vor Ort wieder, denkt man, es kommt wirklich ein Radfahrer von hinten. Man guckt sich um, aber da ist er nicht. Das ist eine so starke Irritation, dass ich für den Walk einen Warnhinweis setzen musste: „Bitte achten Sie auf den realen Verkehr!“ Mit der räumlichen Komponente des Klangs zu spielen, also nicht eine Studioaufnahme zu benutzen, wie es bei Audio Walks üblich ist, bringt eine neue Dimension hinein. Diese zweite Wirklichkeit stellt die „reale“ Wirklichkeit somit ständig infrage. Und das trifft sich wiederum inhaltlich mit dem Thema Lobbyismus – das ist auch eine unsichtbare Ebene in unserem politischen System, die aber sehr direkt wirkt. Man macht sich das selten klar: In den Gebäuden um das Regierungsviertel haben auch die Lobbyisten ihre Büros, in unmittelbarer Nähe zu den Parlamentariern. Die Lobbyisten nennt man auch die Einflüsterer. Und so taucht in meinem Ohr plötzlich ein Einflüsterer auf, mal im linken, mal im rechten Ohr, und man schaut sich um: Wo ist er denn? Man sieht ihn nicht, man hört ihn nur. Zu den beiden Ebenen – der akustischen Konzeption und dem inhaltlichen Element – kam dann noch eine dritte dazu: der Ort selbst. Es ist eigentlich eine touristische Gegend, man schlendert, Boote fahren. Den Sound Walk in diese Situation einzubetten war sehr reizvoll, um genau da dieses politische Thema einzubringen im Gegensatz zu den üblichen touristischen Audioguides.

In Ihrer Arbeit „transition“ von 2001, Sie nennen sie auch Klangsituation, setzen Sie sich mit einem Kunstwerk auseinander. Es ist „Berlin Junction“ (1987) des amerikanischen abstrakten Bildhauers Richard Serra vor der Philharmonie – eine dynamische Skulptur, deren Wirkung eher körperlich als visuell ist, lässt man sich darauf ein. Sie ist Affront und Verführung zugleich. „transition“ war meine erste Installation im öffentlichen Raum, und es war unglaublich spannend, wie die Leute darauf reagiert haben. Mir war damit eine Beobachtungsperspektive möglich, die ich vorher nicht hatte. Ich konnte mich einfach mal dazustellen und mit den Leuten ins Gespräch kommen, ohne mich zu erkennen zu geben. Die Frage „Wie kommt die Kunst beim Publikum an?“ – also wortwörtlich im Sinne von „Was kommt da eigentlich wie an?“ – finde ich wichtig. Und sie wird für mich immer wichtiger schon in der Konzeption.

Serras minimalistische Skulptur sind zwei freistehende gegeneinander gebogene rostbraune Stahlplatten, dazwischen ist ein schmaler Gang … Es war der Status quo der Stadt, 1987, vor dem Fall der Mauer. Ost und West, die sich labil gegenüberstehen und ineinander zu fallen drohen. Ein Zustand, der sich zwar über die Jahrzehnte irgendwie stabilisiert hatte, aber eigentlich total zerbrechlich war. Ich fand grandios, wie er diese Situation in eine Form gebracht hat. Ich weiß gar nicht, ob ihm das so wichtig war, weil er nicht unbedingt einen politischen Anknüpfungspunkt sucht, aber ich habe es so verstanden, und mit meiner „transition“ wollte ich darin die Veränderungsmöglichkeiten betonen, über die eigene körperliche Bewegung, also das Durchgehen durch diesen statischen Zustand. Der Fall der Mauer war dann ja auch so etwas: körperliche Bewegung der Menschen, um eine Veränderung herbeizuführen. Und dieser historische Aspekt wurde für mich in der Konzeption immer wichtiger. Serras ursprüngliche Konzeption war sogar, dass die Platten vom Gleichgewicht her so austariert sind, dass sie ohne Verankerung in dieser Labilität stehen können. Baurechtlich durfte das nicht so ausgeführt werden und die Platten mussten verankert werden, was eigentlich dem Konzept widerspricht. Aber diese Idee habe ich übernommen: Mein „stehender Klang“ in der Skulptur trägt dieses Verhältnis von Gleichgewicht und Veränderung, Instabilität und Stabilität in sich.

Ein stehender Klang ist eigentlich ein Paradox, weil Klang immer Bewegung braucht. Und er ist in der Zeit. Ja, Klang muss ständig erzeugt werden und die Luft ständig in Bewegung sein. Und trotzdem kann man von einem stehenden Klang sprechen, wenn er konstant ist. Bei stehenden Wellen ist es sogar so, dass ich, wenn ich mich auch nur ein bisschen weiter bewege, plötzlich etwas anderes höre. Ich verändere den Klang beim Hören.

Wie komponieren Sie eine Klanginstallation? Ihre Kompositionen sind ein Gesamtkunstwerk, sie beziehen die Rezipient*innen mit ein und auch alle Schichten, die um sie herum sind, inklusive Geschichte. Wie transportieren Sie das kompositorisch? Ich komme von der Komposition, und componere heißt zusammenlegen, in einer Partitur legt man ja mehrere Töne oder Stimmen horizontal und vertikal übereinander. Als Komponist verstehe ich mich auch immer noch. Nur mein Material hat sich ausgeweitet. Es gibt eben nicht nur klangliches, sondern auch visuelles Material. Manchmal gibt der Ort selbst das klangliche Material vor wie auch visuelle Aspekte. Manchmal setze ich aber auch visuelle Elemente hinzu, das kann ein Video oder Licht sein oder nur ein großformatiges Foto, das dann die klangliche Ebene inhaltlich akzentuiert. Dann hängt die Komposition sehr stark davon ab, ob es einen zeitlichen Ablauf im Sinne eines Stückes geben soll, durch den man von Anfang bis zum Ende hindurchgeht. Oder ob sie statisch ist, installativ, also ein Klang, der einfach da ist, dem man begegnen und sich so lange darin aufhalten kann, wie man möchte. Für mich als Komponist war es eine große Entdeckung, im Bereich der Installation nicht in der herkömmlichen Weise mit Dramaturgie arbeiten zu können, da ich nicht weiß, wann jemand die Installation betritt und wann er wieder rausgeht. Es muss also in jedem einzelnen Moment funktionieren, kann sich nicht „aufbauen“ oder wenn, dann nur in kleineren Einheiten. „transition“ war meine erste große Erfahrung damit. Das Ganze war als ein langer, generativer Prozess angelegt: Jeder Besucher, der durch die Skulptur geht, verändert einen statischen Klang, bringt ihn in Bewegung. Wenn er die Skulptur verlässt, bleibt sie in diesem neuen Zustand, bis der nächste hineinkommt und sie weiter verändert.

Wie muss ich mir das vorstellen? Technisch funktionierte das über Sensoren, die im Boden eingelassen waren, Distanzsensoren. Sie haben einerseits registriert – da läuft jemand vorbei, näher oder weiter weg. Daraus ergaben sich differenzierte Veränderungen. „transition“ bedeutet ja Durchgang, Übergang, und die Installation hat sich so über diese ganze lange Zeit, zwei Jahre, permanent verändert, sodass ich selber manchmal nicht wusste: Wie klingt das jetzt gerade da drin? Es ist auch ein Risiko, wenn man mit generativen Funktionen arbeitet, die sich gegenseitig beeinflussen und so immer komplexer werden. Man kann nicht alles im Voraus kalkulieren wie in einer Partitur, wo man nur noch probt und dann ist es mehr oder weniger fix. Zugleich geht es aber auch in aller Veränderbarkeit um eine spezifische Charakteristik, damit es nicht in Beliebigkeit übergeht. Um diese Charakteristik klanglich herauszuarbeiten, habe ich mich an Serras Material und Form orientiert.

Und was haben die Menschen gesagt? Wie wurde „transition“ angenommen? Das war sehr speziell, weil es nirgendwo einen Hinweis darauf gab. Es war zunächst eine Irritation. Manche haben es erst mal gar nicht richtig begriffen. Einmal habe ich ein Gespräch von zwei Besucherinnen belauscht, eine sagte: „Was der Wind hier alles macht …“ Wenn die Leute durchgehen, bemerken sie, dass sich etwas verändert – es ist ja interaktiv –, dann stutzen sie und gehen wieder zurück. Dieses Entdecken der Situation und auch die Freude daran fand ich bemerkenswert. Das hat man nicht so stark im Konzertsaal oder in einem Galerieraum, der öffentliche Raum bietet da mehr.

Wie verändert sich eine Grundidee im Prozess – durch die Begegnung mit dem Ort selbst, z. B. mit Serras Skulptur? Ja, tatsächlich. Die Ausgangsidee war ganz simpel musikalisch. Ich fand einen tollen Echoraum zwischen den Platten, und da wollte ich die Leute hineinführen und Klang erleben lassen. Die Idee hat sich weiterentwickelt in der Beschäftigung mit der Skulptur, mit Serras Konzept, und mit meinen eigenen Beobachtungen: Wie bewegen sich die Leute? Welche Geschichte hat dieser Ort? Diesen Rechercheprozess finde ich sehr wichtig, er hat mich ein Stück weggebracht vom reinen „Im-Klang- Denken“. Denn eine Auseinandersetzung mit einem Ort birgt auch eine gesellschaftlich-politische Komponente in sich, im Fall von „transition“ waren es mehrere historische Ebenen, bis zurück in die Nazizeit. Als Klangkünstler ist man dann konzeptuell herausgefordert, den visuellen, den situativen oder auch historischen mit dem akustischen Teil zusammen zu denken und zu bearbeiten – ähnlich einem Gesamtkunstwerk.

Als Ton-Bildhauer machen Sie skulpturale Arbeiten im Raum, in der Zeit und auf verschiedenen Ebenen. Wo lokalisieren Sie die Klangkunst? Sie wird häufig in der Musik verortet – da gibt es die elektronische Musikszene –, manchmal in der bildenden Kunst und manchmal in der Medienkunst. Das sind auch für mich die drei Felder, aus denen sich alles speist. Klangkunst ist hybrid von Anfang an, interdisziplinär. Das Wort „Klangkunst“ selbst trifft das leider nicht so richtig. Ich fände es wunderbar, wenn in unserem Studiengang Leute auch aus ganz klar visuellen Bereichen kämen, um das zu lernen, um für Klang Gespür zu entwickeln. Das macht einen großen Unterschied in der Wahrnehmung aus. Wir sind visuell sehr gut, aber akustisch sehr schlecht trainiert. Das muss man tatsächlich etwas üben und seine eigene Erfahrung damit machen.

Sie sprachen von Klangräumen, in denen es keine lineare Dramaturgie gibt, sondern die zu jedem Zeitpunkt für jeden funktionieren müssen. Solche Räume sind im Grunde Zeit-los, aneinandergereihte Momente. Wie machen Sie das, wie komponieren Sie das? Das soll ich jetzt verraten, mein Berufsgeheimnis? Also vielleicht an einem Beispiel. Man sieht auf den Konstruktionszeichnungen von Richard Serra, wie die beiden gebogenen Stahlteile auf einen Schwerpunkt ausgerichtet sind. Man kann diese Kurven als Teile einer Schwingung sehen und daraus eine Frequenz ableiten. Ich habe also Serras Konstruktion vermessen und überraschenderweise standen die beiden Segmente einen Halbton auseinander. Eine interessante Grundspannung. Zwei Töne, die einen Halbton auseinanderstehen, das ist keine Harmonie mehr, aber es ist auch noch keine Disharmonie. Das birgt eine ambivalente Stimmung, es ist noch angenehm, könnte aber gleich kippen – eine offene Situation. Aus der Skulptur diesen Halbton ableiten zu können, fand ich großartig. Damit hatte ich die musikalische, in gewissem Sinne zeitlose Grundspannung für diese Installation. Dieses Frequenzverhältnis taucht dann immer wieder in anderer Form auf, man kann den Halbtonschritt hören und spüren.

Sie spielen also mit einer statisch-dynamischen Situation. Tatsächlich habe ich auch die Kurvenform der Skulptur aufgegriffen und eine entsprechende elektronische Klangkurve generiert. Sie wird, je nachdem, wie jemand durchläuft, aktiviert, taucht plötzlich auf und verschwindet wieder. Läuft man noch mal durch, hört man diese Klangkurve in einer Variation. In der Skulptur hat man also eine statische Situation, die sich immer wieder mit dem Hindurchgehen verändert. In der Musik würde man es Variation nennen. Hier ist es eine Klangbewegung in der Statik. Sie ist direkt aus der Form der Skulptur entwickelt, so wie auch das Material – die Platten sind aus rostigem Stahl – die Klangcharakteristik beeinflusst hat.

Was ist mit dem Timing? Wie lang muss eine sinnvolle Einheit sein, damit der Besucher sie noch wahrnimmt, bevor er draußen ist? In diesem Fall waren es 13 Sekunden. Die kleinen Variationen musste ich also so gestalten, dass der Klangverlauf klar wahrnehmbar bleibt, aber nicht langweilig wird und somit die Aufenthaltsdauer unbestimmt sein kann. Völlig planbar war das nicht. Es ist ein Stück, aber es gibt keinen Anfang und kein Ende, das war kompositorisch eine Herausforderung.

Also eine nicht lineare Komposition mit offenem Ausgang und unbestimmter Dauer. Wenn man aus einer Tradition kommt, die in musikalischer Dramaturgie denkt, geschieht Spannung im zeitlichen Nacheinander. Ein Spannungsbogen ist für eine musikalische Komposition elementar – ohne Spannung geht gar nichts, nur Langeweile, Ödnis oder Klischee. Hier in der Installation aber wird die Spannung transformiert, da man mit Zeit ganz anders umgehen muss, und da andere Komponenten wie Ort und Situation eine Rolle spielen. Die Situation ist offen, weil es eben kein Stück ist, das man von Anfang bis Ende konzentriert hört. Die Wahrnehmung wird ausgeweitet in andere Bereiche, ins Visuelle und Situative. Wo bin ich hier? Und da sind vielleicht auch andere Leute, andere Geräusche, Vögel, Verkehr, das alles spielt eine Rolle. Und irgendwann taucht in der Installation eine Stimme auf, die von Otto Sander, mit dem ich ein Gedicht von Brecht aufnehmen konnte: „Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. Ich bin nicht gern, wo ich hingehe.“ Auch das setzt Reflexionsprozesse in Gang. Wenn Leute eine halbe Stunde in der Installation waren, haben sie danach die Umgebung anders wahrgenommen, sie haben anders gehört. Und das sind wichtige Erfahrungen, die die Wahrnehmungsfähigkeit entwickeln – für den Alltag oder vielleicht sogar noch weiter.

Der öffentliche Raum ist auch ein offener Raum – nicht nur mit allen Schichten der Gesellschaft, sondern er ist offen in der Materialität, man ist dort nicht festgelegt auf ein bestimmtes Material. Bei Klangkunst geht es traditionell um Wahrnehmen, um Hören. Für mich ist entscheidend, das zu erweitern, noch andere Bezugspunkte zu entwickeln, die mit unserer Gesellschaft zu tun haben, mit sozialen Konflikten, und auch manchmal die Provokation zu suchen. Einfach ist das nicht, und an den Genehmigungsprozeduren merkt man es deutlich. Installationen sind leider immer sehr aufwendig, man winkt oft aus formalen Gründen ab – Sicherheit, Ruhestörung … Auch inhaltlich wird es noch große Auseinandersetzungen in der Kunst geben, denke ich. Wie provokativ kann man noch sein, ohne einem Shitstorm ausgesetzt zu werden? Gibt es Grenzen, müssen sie eingehalten werden? Kann man das von Kunst verlangen? Gerade der öffentliche Raum ist da besonders heikel: ein Battlefield. Ich denke, man muss der Tendenz widerstehen, etwas machen zu wollen, was niemanden stört oder sich nach allen Seiten absichert. Das wären verpasste Chancen.

Und wie wird man verlockt? Klang kann eine starke Irritation sein, man kann damit auch schockieren. Aber erst einmal wollen wir von einem Kunstwerk ästhetisch fasziniert werden, im Grunde: von Schönheit verführt werden. Dann ist man offener, sich auf etwas einzulassen, hinzuschauen, zuzuhören. Und das kann man nutzen, um die Leute in etwas anderes hineinzuführen, in eine Auseinandersetzung. Im Gegensatz zum Konzertsaal – eine gestellte Situation, die Interesse wohlwollend voraussetzt und meist auch eine abgeklärte Erwartungshaltung – habe ich erst mit diesem Schritt in den öffentlichen Raum das ganze Feld der Rezeption entdeckt. Wie reagieren eigentlich die Besucher, und was lerne ich daraus? Es ist eine offene Situation und sehr anregend. Welcher Künstler, der in einem Museum ausstellt, erfährt schon, was jemand beim Betrachten seines Werkes denkt?

Georg Klein ist Komponist und Klangkünstler und Studiengangsleiter der Sound Studies and Sonic Arts am Berlin Career College.
www.georgklein.de
Text: Marina Dafova