KANON / REFERENZ

Quelle: mn
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KANON / REFERENZ

Überlegungen zur Dynamik ästhetischer Übereinkunft in der Architektur

„Das noch Benutzbare aus dem Erbe früherer Zeiten bietet sich von selbst dar, wenn der Baumeister nur ganz dem lebensvollen Zweck folgt. Denn alles Leben ist verwandt und reicht sich über die Jahrhunderte hinweg die Hand.“
Karl Scheffler, Moderne Baukunst, Berlin 1907

 

„Rom ist der Untergang für die, die nicht viel wissen. Nach Rom Architekturstudenten zu schicken, heißt sie für ihr ganzes Leben zu ruinieren.“
Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, Paris 1923

 

In der Folge der Kolonialisierung und der damit zunehmend globalisierten Welt wurde der klassische Kanon der Architektur im 18. und 19. Jahrhundert in mehreren Schritten neu geschrieben und erheblich diversifiziert. Auch die Wiederentdeckung des Mittelalters und seiner baulichen Überreste nach der Französischen Revolution veränderte das Wertesystem und die Wissenslandschaft der Architektur erheblich. Nicht nur wurde der bis dahin unangefochtene antike Bezugsrahmen in Frage gestellt, auch das Nebeneinander verschiedener Referenzsysteme war nun denkbar und möglich. Hinzu kam eine allmählich steigende Wertschätzung anonymer regionaler, bürgerlicher oder ländlicher Baukunst. Mit den Reformbewegungen um 1900 veränderte sich der Bezugsrahmen erneut, die historischen Referenzen sollten gegen solche aus der Natur ersetzt werden. Antiakademische Bestrebungen trugen ihren Teil zu der stetigen Veränderung der ästhetischen Übereinkunft bei. Die Vorbildhaftigkeit außereuropäischer Kulturen in Bernard Rudofskys Architecture Without Architects oder auch Aldo van Eycks Thematisierung der Bauten der Dogon oder der Ancestral Puebloans zeugen von diesen bis heute wirksamen Neubewertungen. 
Gleichzeitig zu den allmählichen Verschiebungen des von europäischen Überlegungen dominierten Kanons stellte die Industrialisierung die Architektur vor erhebliche Probleme: Neue Bauaufgaben mussten eine Form finden, neue Konstruktionsformen mussten in den klassischen Formenapparat eingepasst werden, die zunehmende Geschwindigkeit der eigenen Fortbewegung führte zu Veränderungen in der Wahrnehmung von Form, Raum und Zeit – und somit wiederum zu neuen formalen Lösungen.
Die Vorlesungsreihe möchte ein Schlaglicht auf die Bewertungskriterien der Artefakte von etwa 1700 bis heute in einigen zeitlichen und thematischen Schnitten werfen, um einer Beobachtung nachzugehen: Der Kanon, rsp. die Kanones haben sich in den vergangenen Jahrzehnten in ein beweglicheres, "dynamischeres" Wertesystem, aber dadurch auch unschärferes und sich schneller wandelndes Referenzsystem verwandelt. Die Auflösung einer Richtschnur wurde zugunsten eines individuell oder in kleineren sozialen Gruppen ausgehandelten und gesetzten Punkterasters in Gang gesetzt. 

 

Vorlesung, jeden Donnerstag, 17:00-18:30, A 310
Beginn: 26.10.2023

BA Module 12/14 = 3ects; MA Module 3/5 = 5ects
Keine Anmeldung nötig. 

Literatur (Auswahl)

Bodenschatz, Harald: Das Jahr 1939. Überlegungen zur Kanonisierung des nationalsozialistischen Städtebaus. In: Der "Auftrag Speer" der Staatlichen Bildstelle Berlin. Hg. v. Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landsmuseum. Berlin 2022  (= Arbeitshefte des Brandenburgischen Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologischen Landsmuseums 60). S. 202-219. 


Breitschmid, Markus und Valerio Olgiati: Nicht-Referenzielle Architektur. Zürich 2019.


Brodersen, Kai, Die Sieben Weltwunder. Legendäre Kunst- und Bauwerke der Antike, München 1996


Dix, Andreas, Das Fremde verstehen – Strategien der visuellen Erschließung Japans durch Europäer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: kunsttexte.de, Sektion Gegenwart und Künste, Medien, Ästhetik 2 (2020), www.kunsttexte.de, letzter Zugriff: 22.11.2022.


Entwurf und Referenz. Analogie und Zitat in der Architektur. In: Werk, Bauen + Wohnen. Bd. 105. Jg. 72. 2018. H. 4.


Erben, Dietrich: „Haltung“. Zu Karriere und Kritik eines Begriffs in der Architektursprache. In: S. 127-139. 


Focillon, Henri: Das Leben der Formen [1934]. Deutsche Ausgabe 1954.


Frampton, Kenneth: Modern Architecture. A Critical History. London 1980.


Giedion, Sigfried: Time, Space and Architecture. The Growth of a New Tradition, Cambridge, Mass. 1941.


Gombrich, Ernst H.: Kunstgeschichte und Sozialwissenschaft. In: ders.: Die Krise der Kulturge­schichte: Gedanken zum Wertproblem in den Geisteswissenschaften. Stuttgart 1983 (Erstausgabe London 1979), S. 146–185.


Heydebrand, Renate von (Hg.): Kanon – Macht – Kultur: theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung. Stuttgart 1998 (= Germanistische­ Symposien­ Berichtsbände XIX).


Joedicke, Jürgen: Geschichte der modernen Architektur : Synthese aus Form, Funktion und Konstruktion. Zugl. Habil.-Schrift TH Stuttgart. Stuttgart 1958.


Köth, Anke, Kai Krauskopf und Andreas Schwarting (Hg.): Eine große Erzählung. Dresden 2008 (= Building America 3).


Kubler, George, Die Form der Zeit. Anmerkungen zur Geschichte der Dinge [1962]. Frankfurt am Main 1982.


Noell, Matthias: Wider das Verschwinden der Dinge. Die Erfindung des Denkmalinventars. Berlin 2020.


Oechslin, Werner: Fischer von Erlachs „Entwurff einer Historischen Architectur“: die Integration einer erweiterten Geschichtsauffassung in die Architektur im Zeichen des erstarkten Kaisertums in Wien. In: Hermann Fillitz (Hg.): Akten des 25. Kongresses für Kunstgeschichte, Bd. 7. Wien und der europäische Barock. Wien 1986. S. 77–81.


Pevsner, Nikolaus: Pioneers of Modern Design. London 1936. 


Philipp, Klaus Jan: Architekturgeschichte und Kanonbildung: Zu den Anfän­gen der Architekturgeschichtsschreibung. In: Der Architekt. Zeitschrift des Bundes Deutscher Architekten. 2004. H. 11/12. S. 36–41. 


Philipp, Klaus Jan: Der architekturgeschichtliche Kanon. Vier Thesen und ein Rettungsversuch. In: Anke Köth, Kai Krauskopf und Andreas Schwarting (Hg.): Eine große Erzählung. Dresden 2008 (= Building America 3). S. 225-238.


Philipp, Klaus Jan: Mittelalterliche Architektur in den illustrierten Architekturgeschichten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. In: Bernd Carqué/Daniela Mondini/Matthias Noell (Hg.): Visualisierung und Imagination. Materielle Relikte des Mittelal­ ters in bildlichen Darstellungen der Neuzeit und Moderne. Göttingen 2006 (= Göttinger Gespräche zur Geschichts­wissenschaft 25). S. 376–412.


Philipp, Klaus Jan: The Hidden Persuaders der Architekturgeschichte. Kanonproduktion im 20. Jahrhundert. In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, www.kunstgeschichte-ejournal.net. URN: urn:nbn:de:bvb:355-kuge-292-6


Staufer, Astrid u.a. (Hg.): Ikonen. Methodische Experimente im Umgang mit architektonischen Referenzen. Zürich 2018.


Tommek, Heribert (Hg.): Europäische Regelsysteme des Klassischen im 17. und 18. Jahrhundert. Zur Funktion der Klassik-Referenz in Literatur, Archäologie, Architektur und Kunst im 17. und 18. Jahrhundert. Regensburg 2020.


Women in Architecture Berlin. Facetten Weiblicher Baukultur. Hg. v. n-ails ev. Berlin 2022.