Das Stendhal-Syndrom

Wintersemester 2019/ 2020

MA-Lehrveranstaltung Module 04 + 05 

BA Modul 14 

Veranstaltung Montag 13.30-15.00 Uhr, Raum 336

Einführung am 21.10.2019  13.30 Uhr, Raum 336

Anmeldung: Aushang Raum 343

 

Das Stendhal - Syndrom

 

Gleichzeitigkeit, Überlagerung, Durchdringung bezeichnen nicht nur erwünschte Facetten der flanierenden Wahrnehmung in den Pariser Passagen des späteren 19. Jahrhunderts, sind nicht nur Attribute des Lebens des urbanen „Neuen Menschen der Moderne“ seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern sie bestimmen schon den Modus einer ästhetischen Erfahrung, der sich Stendhal bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts in seinen Reisen nach „Rom, Neapel und Florenz“ (1817), in gewisser Weise schutzlos, ausgesetzt fühlte. „Als ich Santa Croce verließ, hatte ich starkes Herzklopfen; in Berlin nennt man das einen Nervenanfall; ich war bis zum Äußersten erschöpft und fürchtete umzufallen.“

Die verschwenderische Masse an Schönheit in Architektur, Kunst und Städtebau aller Zeiten, die Rom ihm jederzeit darbot, wohin sein Auge auch blickte, sein Körper sich wendete, überforderte Geist, Seele und Sinne des Bereitwilligen, weil er, wie seine Zeitgenossen auf der Grand Tour, jedes schöne Objekt in seinem eigenen Recht und seiner Einzigartigkeit erfassen und erfahren wollte, was angesichts der Dichte nur in Überwältigung, im mentalen Kollaps, in Ohnmacht, enden konnte.

Der „Verlust der Kohäsion des Selbst“ durch Überwältigung angesichts der Fülle an Kunstwerken ist nach Gabriella Magherini das wesentliche Merkmal eines von ihr nach Stendhal benannten Syndroms, das sie an vollkommen erschöpften, verwirrten ausländischen Touristen feststellte, die als Patienten in ihre Klinik eingeliefert wurden: Halluzinationen, Panikattacken, hoher Blutdruck und Ohnmachtsanfälle sind seine Symptome.

Rom also. Dieses alte, dieses ewige Rom. Per se also auch Propädeutikum moderner Wahrnehmungskonventionen? Nachdem es von Collin Rowe schon als Bricolage und Modell entspannter Stadtentwicklung mit großen Heilungsaussichten in den Urbanismus-Diskurs der Moderne eingeführt wurde?

Was, so fragen wir uns, wenn wir auf den Spuren historischer literarischer, künstlerischer, politischer Romexpeditionen zwischen dem 16. und 21. Jahrhundert Station für Station unsere eigenen Spuren durch Rom ziehen und dabei, wie Stendhal, dem Eigenwert der jeweiligen Station, der Schönheit der Bauwerke, Plätze, Straßen, Gärten unsere volle Aufmerksamkeit schenken, was, wenn wir auf dem Weg dorthin Unerwartetes sehen, das auch wahrgenommen werden will? was, wenn wir unsere eigene Spur hinzufügen, als Spur der Spuren? werden wir dann krank? fallen wir in Ohnmacht? überleben wir das?

Und was, wenn sich auch noch zwei Fachgebiete sich auf dieselben Spuren setzen? Chaos perfekt? Ambulanza 118?

Die Spurenleger sind Michel de Montaigne, Sixtus V, G. B. Piranesi, J. W. Goethe, Stendhal, Emile Zola, Mussolini, R. Venturi, P. P. Pasolini, R. D. Brinkmann, C. Rowe/ F. Koetter (Collage City), P. Sartago (Roma interrotta) 

Die Veranstaltung findet in Kooperation mit dem FG Architekturgeschichte + Architekturtheorie statt.