Birgit Eusterschulte

Künstlerische Autonomie und selbstreflexive Praxis seit den 1990er Jahren in Berlin

In der künstlerischen Praxis der 1990er Jahre lässt sich in besonderer Weise ein Herantreten an das Publikum beobachten: Künstler*innen entwickeln Handlungsformate und Präsentationsformen, um zu informieren, zu dokumentieren, mit dem Publikum zu interagieren, es partizipieren zu lassen und in gesellschaftliche und politische Realitäten einzugreifen. Das Teilprojekt nimmt die unterschiedlichen Materialisierungen und Erscheinungsweisen dieser Ansätze in den Blick und fragt nach dem Kunstverständnis, das sich in den Aktionen, sozialen Interaktionen, Projekten, Veröffentlichungen und Ausstellungen abbildet. Wie werden künstlerische Autonomie und Ansprüche einer heteronomen Praxis in der künstlerischen Produktion verhandelt und reflektiert? 

Damit steht die Frage nach den produktiven Aneignungsweisen einer neugefassten Autonomie der Kunst, die das emanzipatorische Potential einer Autonomieforderung als „self-determining nature of human powers and capacities“[1] auffasst, im Raum. Insofern institutions- und selbstkritische Praktiken, wie sie sich seit den späten 1960er Jahren herausgebildet haben, immer auch die gesellschaftlichen Funktionsweisen von Kunst und die Diskurse der Institution Kunst analysieren und offenlegen, nimmt das Teilprojekt aus der Perspektive selbstreflexiver, künstlerischer Praxis eine kritische Sichtung der Produktion in Berlin seit den frühen 1990er Jahren und ihrer Präsentations-, Veröffentlichungs- und Ausstellungsformate vor.

Die Öffnung der künstlerischen Selbstkritik über den institutionellen Rahmen hinaus äußert sich seit den 1990er Jahren in künstlerischen Interventionen, zu deren Selbstverständnis es zählt, kritisch in öffentliche Belange – gesellschaftliche, urbanistische und politische – einzugreifen. Aus der Sicht der strukturellen Transformationen im Berlin der Nachwendezeit stellt sich damit die Frage, wie künstlerische Praxis auf die veränderten ökonomischen, räumlichen und sozialen Bedingungen der Produktion und Rezeption in der Stadt reagiert, daran mitwirkt und diese reflektiert. Zugleich gilt es mit den Entwicklungen der künstlerischen Produktion das Entstehen neuer diskursiver, künstlerischer und kuratorischer Modelle der Vermittlung heteronomer Handlungsweisen und künstlerischer Autonomie zu beschreiben sowie die Strukturen einer auf Repräsentation zielenden (kultur)politischen Vereinnahmung institutioneller Kritik und Strategien künstlerischer Gegenwehr zu beoachten.

 

 

[1] Terry Eagleton, The Ideology of Aesthetic, Oxford 1990, S. 9