Über Musica inaudita

Die klassische Kunstmusik steckt in ihrer Auseinandersetzung mit diskriminierenden Mechanismen noch nicht einmal in den Kinderschuhen.

Melissa Panlasigui zeigt in ihrer Studie Women in High-Visibility Roles in German Berufsorchester aus dem Jahr 2021, dass nur 1,9% aller 2019 gespielten Werke in deutschen Berufsorchestern von Frauen komponiert wurden. Allein die Frage, für wen professionelle Bühnen und Konzertsäle eigentlich zugänglich sind, wird bisher meist durch eine homogene Gruppe Mitwirkender sowie ein treues aber uniformes Publikum beantwortet. Teilzuhaben an musikalischer Bildung und einem niederschwelligen Zugang zu Konzertsälen wird vielen durch bestehende klassistische Strukturen verwehrt.

Musica inaudita ist eine studentische Initiative an der Universität der Künste Berlin, die sich mit der Diversifizierung der „klassischen“ Musikszene beschäftigt. Teil unserer Arbeit ist, eine fortlaufende Konzertreihe zu organisieren, bei der nur Musik marginalisierter Komponist*innen gespielt wird, die auf Grund ihres Geschlechts, ihrer sozialen oder nationalen Herkunft, der Hautfarbe, Religion, sexuellen Identität, Sprache, Behinderung, politischer oder sonstiger Anschauung nie in den Kanon aufgenommen wurden, oder nachträglich aus ihm entfernt wurden. Was auf den Bühnen gespielt und in den Unterrichtsräumen gelehrt wird, ist ein komprimiertes Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wir sind überzeugt: Eine diversere Programm-/Lehrgestaltung bedeutet nicht nur eine Bereicherung des Konzertbetriebes, sodern ist eine Notwendigkeit für das Überleben der Kunstmusik!

Quelle: Jonathan Schmalöer

Die meisten der von uns in den Fokus genommenen Komponist*innen sind mehrfach von Diskriminierungen betroffen, also bspw. von Sexismus und Rassismus. Diese treten dann nicht unabhängig voneinander auf, sondern gleichzeitig, sind also intersektional, sie bedingen sich gegenseitig, wodurch sich spezielle diskriminierende Bedingungen ergeben, in denen sich die jeweiligen Komponist*innen befanden und befinden. Der US-amerikanische Musikwissenschaftler Philip A. Ewell deckt in seinem Text Music Theory and the White Racial Frame (Music Theory Spectrum, Volume 43, Issue 2, Fall 2021, Seiten 324–329) die diskriminierenden Strukturen in der Musikwissenschaft auf und beleuchtet die Folgen für Personen, die nicht der weißen, cis-männlichen Norm entsprechen. Seine Analyse zeigt, was schon lange klar ist: Wir brauchen ein „deframing and reframing of this white racial frame”. Also eine klare Revision der historischen und heutigen Musikwissenschaft um den bestehenden Kreislauf aus Diskriminierung und Unterdrückung zu durchbrechen.

Denn welche Musik kennen wir? Bei unserem Musikgenuss sind wir zum Großteil auf die Überlieferungen anderer angewiesen, auf die Forschung und auf die Kulturpraxis. Das bedeutet aber oftmals, dass viele Werke nie oder kaum die Chance haben, erlebt und gefühlt zu werden. Was in den großen Häusern gespielt wird, was die Verlage veröffentlichen, was Algorithmen uns auf Musikstreamingplattformen vorschlagen, hören und kennen wir. Da dies nur einen extrem begrenzten Teil der Musikgeschichte abbildet und wir überzeugt sind, dass eine diversere Programmgestaltung eine Bereicherung des Konzertbetriebes, ja, eine Notwendigkeit für das Überleben der Kunstmusik ist, setzen wir uns nicht nur für die Anerkennung und (Wieder-)Aufnahme diskriminierter Komponist*innen in den Konzertbetrieb ein, sondern wollen uns auch in den Hochschulbetrieb einmischen.

Wir wollen die Institutionalisierung unserer Konzerte erwirken und die Existenz dieses oder ähnlicher Formate so selbstverständlich wie verpflichtend machen. Das Stattfinden der Konzerte soll nicht abhängig sein von einem motivierten Orgateam, sondern ein fester Bestandteil jedes Semesters in der Fakultät Musik. Wir möchten Produktionen von bisher nicht aufgenommenen Stücken unterstützen und zeichnen für uns eine Zukunft, in der die Institutionalisierung der Konzertreihe durch hochschulpolitische Arbeit und unsere studentischen Hilfskräfte vorangetrieben wird. Diese haben unter anderem die Konzertorganisation, Archivrecherchen und Digitalisierung nicht verlegter Musik als Aufgabenbereiche. Und wer sagt, dass nicht auch ein Eindringen in Studienordnungen möglich ist, in denen irgendwann zum Beispiel als Voraussetzung für das Abschlussprogramm nicht mehr nur das Vorhandensein verschiedener Epochen, sondern auch eine erkennbar diverse Aufstellung der Auswahl an Komponist*innen sichtbar ist?

Uns ist es wichtig, dass die Thematik in verschiedenen Studiengängen präsent ist, da sie gleichermaßen in Schulklassen, Musikschulen und Konzerthäuser gehört. Auch deshalb möchten wir die Gestaltung der Konzerte studiengangsübergreifend realisieren. Wir freuen uns über alle, die sich an Konzerten beteiligen oder einfach mit uns in Austausch treten möchten.

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